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An diesem einen Punkt der Welt - Roman

An diesem einen Punkt der Welt - Roman

Titel: An diesem einen Punkt der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brita Steinwendtner
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sieben.
    1946 hat man nicht die Jahre, nur die Toten gezählt, warf Parmenides ein.
    Mein Gott, sagte Roberta, was ist aus Sieglinde geworden, aus diesem Kind von einst, das immer gelacht hat und das alle herzen und küssen wollten, das so übermütig und begabt war, mit fünf schon hat sie Violine gespielt. Das hat sie dir mitgegeben, Tom, diese Musikalität. Vor zwei Monaten hab ich sie besucht, ich hab sie fast nicht gefunden unter ihren Geschenkkartons, selbst ihre Stimme hat keinen Klang mehr, als ob ihr der Hals verschnürt wäre.
    Und dann erzählte Roberta.
    *
    Es war im Juli 1946.
    Ein schöner Sommernachmittag. Es war Frieden. Die meisten Menschen sagten: Es ist Frieden. Das Schlimmste war überstanden, sagten sie. Jetzt nannten sie es „das Schlimmste“ und hatten es bis vor kurzem doch selbst genährt.
    Auch im Lamanderhaus war noch Nachkriegszeit. Sieglindes Vater war als Gemeindearzt des Dorfes angesehen und darum unangetastet, als er Flüchtlingen vorübergehend Asyl in seinem Haus gab. Einige hatten Arbeit gefunden und waren ausgezogen. Drei Versprengte, die nicht weiterwussten, waren noch da. Die Eltern waren großzügig und setzten niemand auf die Straße. Der Vater war dabei, sich in Kolness eine neue Praxis aufzubauen, die Mutter half ihm, sie war oft unterwegs.
    Sieglinde war ein Einzelkind. Roberta, die nur ein paar Steinwürfe entfernt wohnte, war ihre liebste Spielgefährtin, sie verbrachten ganze Tage zusammen. Bauten kleine Stauwerke im Bach und weiche Lagerplätze im Wurzelwerk der Fichten. Spielten Verstecken in den hohen Sommerwiesen, Sieglinde konnte auf Gräsern Musik machen und abends holte sie mitunter ihre Flöte hervor.
    In der ehemaligen Werkstatt über dem Hühnerstall hatte sich eine junge Frau eine Bleibe geschaffen. Sie war mit einem Flüchtlingstreck aus Ungarn bis hierher gekommen. Sie hieß Anjuschka. Ihr Vater war ein Nazi-Kollaborateur und dabei gewesen, als jüdische Kinder nackt in die Donau getrieben und kaltblütig erschossen worden waren. Er wurde von den Russen liquidiert. Anjuschkas Mutter hatte die Flucht aus Budapest nicht überlebt.
    Aber es ist Frieden, sagten die Leute.
    Und verschlossen Mund und Erinnerung an einen anderen Zug von Menschen, der durch das Tal getrieben worden war Ende März/Anfang April 1945: Jüdische Zwangsarbeiter, die man von den ungarisch-österreichischen Grenzlagern quer durch das Land und auch durch das Dorf am Fuß des Grillparz in das Konzentrationslager Mauthausen jagte, bewacht nicht nur von einer kleinen Gruppe der SS, sondern vor allem von den Mitgliedern des jeweiligen örtlichen Volkssturms und sogar von der HJ, der Jugend eines Reiches, das tausend Jahre währen wollte. Man wusste, dass nicht wenige Häftlinge, erschöpft, ausgehungert und ohne Hoffnung, wie sie waren, zusammenbrachen und erschlagen wurden, erschossen, einfach im Straßengraben liegen gelassen.
    Anjuschka hatte von anderen Flüchtlingen Kunde von diesen Todesmärschen und versuchte, sie zu verdrängen. Sie war einige Wochen später gekommen und hatte nicht gewusst, wohin, wie weiter. So war sie geblieben, lernte sich auf Deutsch zu verständigen und arbeitete als Schankhilfe beim Mesner Wirt. Sie war beliebt bei der Kundschaft, auch beim Wirt selbst, sie machte keine Schwierigkeiten. War schweigsam und folgsam. Im Stillen fragte sie sich, wer wohl von den Saufkumpanen oder braven Vätern, die sonntags mit ihren Frauen und Kindern in die Gaststube kamen, unter den Mördern ihrer Landsleute gewesen war. Anjuschkas Gesicht wäre schön gewesen, wenn es nicht Verbitterung gezeichnet hätte. Aber mit der trostlosen Hingabe von Menschen, die alles verloren haben und die gutmachen wollen, was andere verbrochen haben, liebte sie Kinder. Sieglinde war oft bei ihr, sie spielten Mensch ärger Dich nicht und Tierquartett und in ihrem gebrochenen Deutsch erzählte sie von ihrer Heimat, in der es nach Kürbissen, süßen Zwiebeln und der Maische von roten Trauben geduftet hatte. Manchmal durfte Sieglinde über Nacht bleiben. Anjuschka sang sie in den Traum. Wenn das Kind schlief, legte sie sich zu ihm, strich sorgsam über das goldene Kreuz an Sieglindes Hals, über seine Kanten und seine Kühle.
    Walderdbeeren reiften an den wenigen sonnigen Stellen im Lamandergraben.
    Sieglinde kannte die Plätze. Eines Spätnachmittags band das Mädchen Anjuschka ein Tüchlein vor die Augen und führte sie hin. Ein Schnabulieren und Lachen, es gibt nichts Vergleichbares im Geschmack,

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