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An diesem einen Punkt der Welt - Roman

An diesem einen Punkt der Welt - Roman

Titel: An diesem einen Punkt der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brita Steinwendtner
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rot, sonnenwarm und süß. Dann pflückten sie die Früchte in kleine, verbeulte Blechdosen, die einen Deckel mit Klappverschluss hatten.
    Es war dämmrig geworden.
    Im Himmelsausschnitt über dem Graben stand die blasse Mondsichel.
    Ein Rehbock verhoffte.
    An beides erinnerte sich Sieglinde später.
    Was dann geschah, weiß nur ein für sein Leben zerstörtes Kind.
    Es sah einen Mann, der Anjuschka ins Gebüsch zerrte. Es sah eine schwarze Maske mit leuchtend orangefarbenen Flecken, wie der Körper eines Salamanders, über Haar und Gesicht gezogen. Es hörte Kampf, hörte Schreien, hörte einen letzten erstickten Schrei. Das Kind war schockgelähmt. Als es stiller wurde und man nur mehr Keuchen hörte, als die Zeit aussetzte, war nichts mehr da außer Flucht. Das Kind rannte, flüchtete, floh, flog und rannte, stolperte, strauchelte, fiel, rannte schon im Aufrappeln weiter, sprang und jagte fort, und als es die ersten Häuser sah, begann es zu schreien, es schrie und schrie und rannte, und der Vater, der eben heimkam, hörte es von weitem, lief dem Mädchen entgegen, es flog auf seinen Körper zu und dann ins Gras und schrie Anjuschka, Anjuschka und verlor die Besinnung.
    Vergewaltigung und Mord an junger Ungarin, las man in den Zeitungen der nächsten Tage. Das Dorf, der Bezirk, das ganze Land im Fieber. Das Dorf war aufgescheucht. Wenn sonst nichts los ist, wenn jeder jeden kennt und alles von allen zu wissen glaubt, wenn wenig übrig bleibt, was nur einem selbst gehört, redet sich’s gut über andere, braucht man eine Prallwand für die eigenen Albträume und Gelüste. Braucht man einen fremden Buckel, auf dem man abladen kann.
    Es war der Banatler vom Bahnhof, sagten sie, der Banatler war’s, ja, sicher, jaja sicher, die sind eine ganze Bagage, das könnte jeder von denen gewesen sein, aber der mit dem einen Aug, der … Vielleicht war’s der Sepp, der vom Riedlhof? Der hat sie oft abgepasst in der Nacht, nein, der doch nicht, das war doch keiner von uns Einheimischen, bist blöd, der Sepp nicht und der Luk nicht, der wollte auch immer was von ihr, aber der Ami, der wird’s gewesen sein, ja, der Amerikaner da, der ist immer mit seinem Jeep von Hörsching her gekommen und rumgezogen in der Gegend, die war doch … na, vielleicht war sie doch von einem Jud’, wer weiß, na ja, wissen kann man’s nie, und eins war sie sicher, glaub ich, eine Hur’, ist nicht schad um sie, und die Worte flogen von Mund zu Mund, es brauchte nur diese beiden Worte und alle glaubten sich freigesprochen und konnten sich Gute Nacht sagen, ein andrer war’s und die war ja selber schuld, ja, selber schuld, wär sie nicht hergekommen, die jüdische Hur’ …
    Sie alle, die Männer, hatten das Handwerk des Tötens gelernt. Es war noch nicht lange her.
    Das hat nicht nur mit dem Krieg zu tun, sagte Sieglindes Vater hilflos. Sieglinde saß auf seinem Schoß, Roberta, die Spielkameradin, daneben, die Maiskolben knisterten im Wind, der Verandatisch war gedeckt. So sind die Menschen, sagte er, sie sind schlecht, das Grausame ist ihnen eingeboren. Was wissen wir denn schon von uns oder von diesen Parzen, von denen wir in der Schule gelernt haben und die angeblich die Fäden des Schicksals spinnen, und wann schneiden sie sie durch? Und wer will denn schon schuldig sein, wer von uns? Sag – – Du nicht und ich nicht und wir alle nicht, wenn wir nicht gezwungen werden, zu sagen ja, ich, vielleicht ich …
    Die Mutter sah ihn an, als erwarte sie von ihm, dem Arzt, ein Heilmittel.
    Dann stand sie abrupt auf und sagte: Verschon uns mit deinen Gemeinplätzen.
    Sieglinde sprach für Monate kaum ein Wort.
    Die wenigen Habseligkeiten Anjuschkas wurden im Dorf verteilt.
    Das nahmen sie dann doch.
    Das Mädchen sah, wie sie kamen und stöberten.
    Wie sie alles in zwei Schachteln packten.
    Selbst diese Armseligkeit in Schachteln packten.
    In Schachteln wegtrugen.
    Das hat das Kind nie mehr vergessen.
    Wollte sich, als es groß war, nie mehr etwas nehmen lassen.
    Es blieb nichts von Anjuschka außer bösen Gerüchten.

8
    Im Winter schenkte der Tag dem Haus kaum Licht.
    Es blieb dunkel oder dämmrig. Die Sonne kam nicht über den steilen Uferhang, sie zog tiefer ihre Bahn und durchbrach erst nach vier sonnenlosen Monaten den Kernschatten über dem Grund.
    Aber jetzt wäre Sommer.
    Die Sonne würde hoch stehen, morgens schon auf die Bücher leuchten und abends noch die Veranda in milchiges Licht tauchen. Wann immer es möglich war, schlief Tom hier

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