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An diesem einen Punkt der Welt - Roman

An diesem einen Punkt der Welt - Roman

Titel: An diesem einen Punkt der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brita Steinwendtner
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draußen, hier trug der Laut der Kreatur alles fort, was ihn quälte, hier hörte er den Bach. Die Venus würde über dem Nussbaum blinken, an dem die Schaukel hing. Wenn der Stern tiefer sank und Wind war, kam und verschwand er zwischen den Blättern, ein endloses Spiel, das Tom von seinem Verandabett aus beobachtete und das ihn besänftigte, bis er einschlief. Manchmal sahen sie es zu zweit, wenn sie wieder zu Atem kamen.
    Elisa.
    Er dachte an sie und daran, wie schön es wäre.
    Elisa jedoch war in Toronto, musste weiter an den Lake Superior.
    Ja, es wäre Sommer.
    Aber es regnete.
    Es regnete bereits seit Tagen, der Garten versank, die Paradeiser setzten Schimmel an, die Löwenmaulblüten fielen ab, die Schnecken krochen jeden Abend als Armada unter den Büschen und Essigbäumen hervor, die sich so schnell verbreiteten und die Tom längst roden sollte. Die Kriecher fraßen alles auf, Zucchini, Salat, Basilikum, Dahlien, und wenn Tom durch das nasse Gras ging, glaubte er sie an seinen Beinen zu spüren, wie sie sich festsaugten und schleimten, und dann holte er die Gartenschere und schnitt sie mittendurch, von Ekel geschüttelt. Sadist, sagte Parmenides, das wundert mich, dass du das kannst.
    Im Hof des dreiseitig angelegten Bauernhauses mit Scheunen zu beiden Seiten stand ein abgewracktes Boot, das Tom in einer übermütigen Nacht mit Freunden hierher gebracht hatte und das hierblieb als surreales Symbol. Vielleicht würde er es bald brauchen.
    Ein paar Freunde waren da. Tom sang und spielte und niemand wollte wissen, wie spät es war, Flaschen standen auf dem Boden, dort, wo gerade noch Platz war zwischen den Büchern. Tom hatte den Schreibtisch in die Mitte seines Arbeitszimmers gerückt, um eine neue Bücherwand aufbauen zu können und dem Regen zu entkommen, der durch das löchrige Dach und den Plafond sickerte. Der barocke Stuck bröckelte ab. Der Lamanderbach war über die Ufer getreten, bald würde er das Lusthaus erreichen, die Himbeeren und die Rosen, die sich die Veranda hinaufrankten bis zur Traufe, bald würde er an den Hausmauern lecken und die Ratten im Keller ertränken,
    und Tom spielte und sang, er sang leise, auch die Zuhörenden atmeten leise, lehnten sich zurück, träumten ein bisschen und tranken, es war einfach angenehm, wenn Tom Musik machte und die Zeit verging, und der Gewitterdonner inmitten des Regens rollte über den Lamandergraben und das Leben war ein wenig leichter ein paar Dylan-Lieder lang, und dann hörte man, wie die Gitarre auf den Boden gestellt wurde und jemand in die Küche hinunterging, um etwas zu holen, immer knarrte die achte Stufe.
    Virgil, der alte Holzknecht, der ein paar Tage bei Tom die Buchenscheiter für den Winter zerkleinerte und im ehemaligen Schweinestall stapelte, ging von Zimmer zu Zimmer, blieb an den Bücherwänden stehen und studierte mit Ausdauer und Staunen die schön klingenden und ihm fremden Namen, Aharon Appelfeld und Walter Benjamin, ein Dante und ein Nuruddin Farah standen da, und weiter Hippokrates, Musil, Ondaatje, Pessoa, Zhuang Zi und Zawinul, und irgendwo vieles von vier Roths, Joseph, Eugen, Gerhard und Philip, und dann drei Lenze, ein Jakob Michael Reinhold Lenz, ein Hermann und ein Siegfried, und er musste lachen, wer heißt denn so, wer hat meinen Lenz-Anger im Namen … Und ging von Zimmer zu Zimmer und hörte zu lesen und zu buchstabieren auf, fast war ihm schwindlig. Im letzten Raum, über dessen Eingang ÖSTERREICHISCHE LITERATUR in den Türrahmen geschnitzt war, fing er mit dem Finger zu zählen an. Virgil hatte ein Gespür für Zahlen, er brauchte das im Wald, wenn er die Stämme zählen musste für den nächsten Schlag, und er zählte die Bücher der ersten Reihe des ersten Regals bis zur ersten Unterteilung, dann die Reihen des ersten Regals von oben nach unten und schrieb die Ziffern auf ein Blatt Papier, zählte dann umständlich die Regale und die Unterteilungen insgesamt in allen Räumen und schrieb die Zahlen akkurat untereinander und ließ Matthias addieren und multiplizieren und schüttelte den Kopf mit dem weißen Haar, als der Jüngere sagte: an die 11 500 Bände, mehr sogar, denn am Boden liegen noch viele und in der Küche stehen auch noch welche. Und Virgil ging zum Schreibtisch, fiel erschöpft auf den Drehsessel, schaute im Kreis und schüttelte abermals den Kopf.
    *
    Nur bei Südwestwind war die Turmuhr des Stifts im Lamanderhaus zu hören. Sie hatte eben Mitternacht geschlagen. Der Raum war voll Rauch. Virgil war

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