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An diesem einen Punkt der Welt - Roman

An diesem einen Punkt der Welt - Roman

Titel: An diesem einen Punkt der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brita Steinwendtner
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…, da wäre …, da würde … Man kann doch ein Kind nicht so quälen, warum habt ihr ihn nicht aus der Schule genommen, seid ihr blind gewesen, habt ihr wie die Hasen nach einem Zickzack erstarrt auf die Kugel des Jägers gewartet, nein, verzeiht, ist ja nur die Schule, aber trotzdem … Und die Eltern wussten nichts zu erwidern, auch sie waren am Ende, und Dominik selbst war in Schweigen verfallen.
    Und das ist der verbürgte letzte Satz:
    Vom Vater angesprochen auf das tröstende Telefonat vom September und die Versicherung, dass Dominik im Grunde den Lehrstoff nachgeholt habe, sie gemeinsam an einem positiven Abschluss arbeiten und alles ein gutes Ende nehmen würde, sagte die Frau, die hier Professor X. genannt wird:
    Das hab ich nur gesagt, damit er nicht vom Berg hinunterspringt.
    *
    Empörung ist ein hartes, hässliches Wort. Aber es trifft. Aber jetzt war alles zu spät. Jetzt wäre jeder Protest umsonst gewesen. Jetzt war Dominik ausgelöscht. Stumm, ohne Reaktion.
    Tom litt mit. Dominik hätte sein Sohn sein können. Über den Hergang der Ereignisse finden sich Aufzeichnungen im braunen Heft. Tom notiert die Entwicklung, stellt das Schulproblem in den größeren Zusammenhang prinzipieller Verhaltensweisen, weiß um die mögliche Disproportionalität solchen Vorgehens und fragt dennoch: „Wann beginnt Unmenschlichkeit? Wie ist ein Mensch beschaffen – wie, warum wurde er so?? –, für den Quälen Lustgewinn bedeutet? Der demütigt und die Folter protokolliert? Der emotionslos zugrunde richtet unter dem Baldachin Gerechtigkeit?“ Eine andere Eintragung lautet: „Wahrscheinlich unsachlich solcher Vergleich, aber dennoch ist zu fragen: Sind Individuen wie X. die Tyrannen einer Zivilgesellschaft?“
    Es ging noch einmal gut .
    Wie gut?
    Die folgenden Wochen – –
    Die folgenden Monate – –
    Dominik besuchte Assunta in der Klinik.
    Dominik sagte: Ich gehe nie wieder in eine Schule.
    *
    Tom war gerne zu Gast in der Familie Mühlheimer. Die Probleme hatten sie einander näher gebracht und in den folgenden Jahren entstand eine dauerhafte Freundschaft. Lucia und Florian waren ein besonderes Paar, schon zusammen, seit sie fünfzehn waren, und unzertrennlich bis heute. Lucia war zwei Kopf kleiner als ihr Mann, ihr dunkelbrauner Pagenkopf passte gut zu Florians blitzblauen Augen, die ihm den Spitznamen Paul Newman eingetragen hatten. Lucia arbeitete als Kindergärtnerin in Kolness und Tom konnte sie für eine Mitarbeit in GO FOR BETTER gewinnen. Sie hatte große Überzeugungskraft und Konsequenz im Verfolgen ihrer Ziele. In den kommenden Monaten übernahm sie Schritt für Schritt Robertas Sozialprojekte für Kinder und Jugendliche, war dynamisch und pragmatisch, und kam nach Dominiks Schul-Desaster zögernd wieder zu ihrem früheren Lachen, das alle optimistisch stimmte. Mit Florian, der technischer Zeichner in der Zementfabrik gewesen, den Einsparungsmaßnahmen zum Opfer gefallen und ein halbes Jahr arbeitslos gewesen war, verstand sich Tom selbst im Schweigen. Florian war zudem ein exzellenter Fotograf, gemeinsam wollten sie im Dorf einen Fotoclub aufbauen. Zu fünft verbrachten sie anregende Abende, kochten italienisch, indisch oder regional, schmiedeten Pläne. Wenn Lucia auf Fortbildung und Elisa in der Welt unterwegs waren, fuhren die Männer abends gerne mit ihren Rädern auf Speckbrot und Most zum Wirt im Winkl. Tom hatte großen Respekt vor Florian, der den Mut gehabt hatte, nach der Arbeitslosenzeit mit einem Kredit eine eigene kleine Firma zu gründen: leichte, im Aussehen futuristische Gartenhütten aus Aluminium, die man nach dem Ikea-System selbst zusammenbauen konnte.
    Nach der schlimmsten Zeit war Dominik wieder ansprechbar. Er hatte sich verändert. Der charmante junge Mann war besserwisserisch geworden und in Diskussionen zuweilen ungerecht in seinen Urteilen. Fuck you. Er las Gotteskriegerromane und Geschichten von neuseeländischen Gefängnisausbrechern, die in Bombay Karriere machten. Die Haare trug er einmal lang, einmal fast zur Glatze rasiert.
    Tom versuchte, ihn abzulenken. Eines Spätnachmittags nahm er ihn mit zu Virgils einsamen Trompetensoli auf dem Lenzanger. Der Wald lag im Nebel, die Fichten standen derb da ohne Wipfel. Ein Hochstand ragte wie die Kanzel der Stiftskirche aus dem Grau. Virgil saß in seiner dicken Lodenjacke auf der Bank bei der Kapelle, in der Maria ihren stocksteifen Sohn auf den Knien hält. Der alte Holzfäller war müde, aber selbstvergessen und langsam

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