An diesem einen Punkt der Welt - Roman
dieses Erblinden nicht auch bekommen können oder schon in uns tragen; und dann will ich euch die Beat-Gedichte vom Erwin Einzinger ans Herz legen und die stillen Texte vom schreibenden Fischer Hans Eichhorn und, und …, und in wenigen Wochen wurde die Sendeleiste zum Hit.
Na ja, für ein paar Minuten halt, sagte Tom nebenbei und drückte seine Zigarette aus, für ein paar Leute.
Noch etwas anderes brachte Welle wir alle ins Gespräch: Durch das Medium Rundfunk erhielt das Schulprojekt über den Todesmarsch der Juden und im weiteren Umfeld über den Mord an Anjuschka eine thematische Erweiterung. Es ging allen Beteiligten nicht um Schuldzuweisung, sondern um die Auseinandersetzung über die zeitlosen Fragen zu Grausamkeit, Gewalt und falschen Ideologien, auch über die tödliche Wirkung von Hetzkampagnen und Gerüchten. Anjuschka zum Beispiel war vogelfrei als Judenhur’ – sie war jedoch weder das eine noch das andere. Sie war vielmehr die Tochter eines ungarischen Nazi-Kollaborateurs, der jüdische Kinder erschossen hatte. Und sie hatte noch nie geliebt.
Über den weit gestreuten Hörerkreis entwickelte sich das Projekt zum wichtigsten Beispiel des gesamten oral history -Konzepts. Es gab massive Vorwürfe und Beschuldigungen, man sprach von „Schamlosigkeit“ und „Heimatbeschmutzung“ und forderte im Hinblick auf den Todesmarsch „Gebt endlich Frieden!“ Aber gründliches Quellenstudium und die Erinnerungen der teilweise über achtzigjährigen Zeitzeugen, von denen viele bisher geschwiegen hatten, ergaben ein so vielfältiges Bild, dass das Ziel erreicht wurde: ein Stück Geschichte von vielen Seiten her aufzurollen und ihm nach-zu-denken.
*
Elisas Baby war jetzt sieben Monate alt. Es war ein Mädchen. Von einem Vater war nichts zu sehen. Elisa war verschlossen. Sie ging nicht viel aus dem Haus. Wenn sie es aber tue, so erzählte Roberta, wirke sie heiter und stolz, lasse jeden gerne das Baby sehen und sei wie alle jungen Frauen, die sich ihres Mutterglücks erfreuen.
An warmen Frühlingstagen sah man, dass der Kinderwagen auf dem Südbalkon der Wohnung stand. Tom fuhr oft vorbei. Schaute hinauf.
Im Dorf wurde vielerlei gemunkelt. War der Vater des Kindes jener befreundete Rechtsanwalt des Notars, bei dem Elisa beschäftigt war? Auch ein Sportartikelverkäufer kam ins Gerede, ein Vorarbeiter aus der Zementfabrik und ein Professor aus der Handelsakademie. Quer durch also, es gab nur Gerüchte. Roberta und Parmenides wussten vielleicht mehr. Tom scheute sich, sie zu fragen. Damals, als er von Elisas Schwangerschaft erfahren hatte, wollte er es um jeden Preis wissen, war es die brennendste Frage in seiner Fassungslosigkeit gewesen. Aber seit er von einem anderen Kontinent zurückgekommen war, war es ihm nicht mehr wichtig. Oder wichtig in anderem Sinn. Es tat ihm leid für Elisa und das Kind, er wünschte sich, dass es ihnen gut ginge. Und es öffnete etwas Neues, etwas überraschend Sanftes in ihm, einen verführerischen Gedanken.
Bei seinen Besuchen im Oberdorf fragte Tom Dinge, die unverfänglich wirkten: wie es Elisa gehe, wie sie durchkomme, ob sie wieder arbeite, wer dann für das Kind sorge … Es gehe ihr gut, sagte Roberta vielleicht ein wenig zu schnell, sie sei in Mutterschutz, brauche also noch nicht zu arbeiten und sie sei ganz verliebt in das Baby, das entzückend sei und immer lache. Sie komme oft am Samstag vorbei, lasse das Kind ein paar Stunden bei ihr, damit sie einige Besorgungen machen oder sich ein wenig ausruhen und Schlaf nachholen könne. Das alarmierte Tom. Er bemühte sich, den Ton seiner Fragen neutral zu halten und ihnen den Anschein sorgenden Interesses zu geben, wie es jedermann tun würde, der diese Alltagsfragen stellt.
Aber einmal, es war spät, er war allein mit Parmenides, beide waren müde vom vielen Wein und Schnaps, es war die Stunde, in der es sich leichter spricht, sagte Tom unvermittelt:
Glaubst du, ich könnte mit Elisa reden?
Aha –
Ich möchte etwas wiedergutmachen – –
So –
Wenn sie will, ich würde gerne dort weitermachen, wo wir einmal waren.
Es war sehr still im Raum.
Weißt du, sagte Tom leise und als ob er die Worte lange überlegt, aber nie ausgesprochen hätte, wir könnten, ja, weißt du, ich habe gedacht, wir könnten eine kleine Familie sein – – ich könnte, ich würde vielleicht das Kind adoptieren können – – ich würde das gerne tun – – ich, ich möchte so gerne alles wieder gut machen. Ich war wütend damals, ich
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