An diesem einen Punkt der Welt - Roman
weniger davon. Er war doch noch jung, sagte er sich, noch nicht einmal „Lebensmitte“, was sind das für idiotische Gedanken. Aber eine dünne Spur von dem war gezogen, The line it is drawn / The curse it is cast , von diesem immer Weniger-, Kleiner-, Bescheidener-Werden, von der Diminuierung der Fülle.
Verena wäre die richtige Freundin für Dominik, überlegte er. Sie würde ihn in die Zukunft musizieren, wie Virgil es wollte, als er vor seinem Tod dem damals Verzweifelten seine Trompete geschenkt hatte.
Aber Verena hatte bereits einen Freund, seit zwei Wochen. Joe Meister. Tom kannte ihn noch aus der Zeit der Freitags-Beiseln . Ein aufmerksamer Typ, erst fünfzehn, sechszehn Jahre alt damals, er war Tom aufgefallen, weil er sich wenig am Getümmel beteiligt, aber genau beobachtet und mitunter Notizen gemacht hatte. Aus den Regalen hatte er das eine oder andere Buch herausgesucht und aufmerksam in einem Eck gelesen. Jetzt war Joe mit seinen knapp dreißig Jahren zum gefeierten Jungstar der Theaterszene geworden. Das Dorfleben war das Reservoir seiner Stücke, Tom hatte sie gelesen, sie gefielen ihm gut. Er dachte daran, eines davon beim Literaturfest, das er mit Matthias plante, aufführen zu lassen. Joe war das Sprachrohr jener Generation, die zwischen Heimatverbundenheit und Globalisierung schwankte, zwischen Bleiben und Fortgehen, Familiengründung und weiter Welt. Auf seiner Homepage war zu seinem ersten Stück zu lesen: „Tatort ist eine voralpine Binnenwelt. Zwischen Zivilstadt und Wildland. Zwischen Geldmensch und Geiltier. Nicht mehr Volksmaul, noch nicht Staatsnorm …“ Super, dachte Tom. Vielleicht war ein Gran Lamandergrund in Joe Meister wirksam geblieben.
Das Literaturfest, das für Dezember geplant war, hatten sie auf den kommenden Sommer verschoben. Die Scheune war nicht renoviert, die großen Pläne waren eingefroren.
Tom stapfte nach Hause. Der Wind hatte gedreht, plötzlich war wieder weißer Winter. Unter dem Schnee war der regennasse Asphalt mit einer dünnen Eisschicht überzogen, es war rutschig. Die Kirchtürme des Klosters standen als Schemen hinter dem Gazevorhang des nebeligen Schneiens. Der Wind trieb ihm die Flocken in die Augen. Er wusste nicht, ob er heute Nacht bei Tess bleiben wollte, mit der er seit einigen Wochen liiert war, heute Nacht und überhaupt. Hatte die Hände in den Taschen, Steinhaufen im Kopf. Hinter den Wolken standen Sterne, war zu vermuten.
40
On air.
Welle wir alle.
In Kolness hatten junge Leute – auch unter ihnen waren Lamanderhaus-Freaks – einen privaten Rundfunksender aufgebaut. Nach langen Verhandlungen hatten sie endlich die Lizenz bekommen, untergebracht war der Sender in einer Mansarde, die Leonhard mit tropischen Hölzern wohnlich und mit Schaumgummi schalldicht ausgebaut hatte. Das Programm sollte in erster Linie von der Bevölkerung selbst getragen werden, ein kühnes und sehr arbeitsintensives Projekt. Tom beriet sie, arbeitete mit, war beflügelt. In Welle wir alle setzte er das fort, was er immer gelebt hatte: Menschen zu achten und ihnen einen Raum zu öffnen, der über die Alltagserfordernisse hinausging. Die Quoten und damit auch die Sponsorengelder würden durch das Gemeinschaftsgefühl kommen, sagte er, das Gefühl, dass wir etwas verbessern können durch den Ansporn, dass das Leben mehr sein kann als geistloses Geplapper über das Wetter.
Es war Aufbruchsstimmung.
Das Notizheft und die Sendungsbeiträge zeigen, welch schönes Experimentierfeld der Sender für Tom war: zum Beispiel einen „Roman in Fortsetzung“ zu programmieren, da er die Ergebnisse der Meinungsforscher bezweifelte, die dem Publikum nur eineinhalb Minuten Konzentrationsfähigkeit zugestehen. „So erzieht man uns zur Dummheit!!“, notierte er. Unter dem Pseudonym Cyrill Scott begann er, ohne Manuskript und locker selbst über schwierige Themen zu reden, etwa über Ismen aller Art und deren Missbrauch, über Kunst, Religion und internationale Literatur und stellte letzterer die Dichtung der Region zur Seite. Große Werke, kleine Gegend, sagte er ins Mikrofon, ich möchte euch gerne über „Die Wand“ von der Marlen Haushofer erzählen, spielt gleich drüben im Tal von der Schutzmantelmadonna, oder über den Roman vom „Morbus Kitahara“ – das ist eine Augenkrankheit, ein schwarzes Loch im Auge, hier ganz in der Nähe, jenseits des Höllengebirges, könnte das geschehen sein, was der Christoph Ransmayr so bedrohlich beschreibt, und wer weiß, ob wir
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