An diesem einen Punkt der Welt - Roman
Parmenides.
Weil wir in einer politischen Welt leben, mein Lieber, antwortete Tom, das weißt du so gut wie ich. Und das zu bedenken ist leider viel wichtiger. Und schwieriger. So auf den Punkt gebracht wie der Bob Dylan hat das nicht bald einer. Aber der ist eben auch ein Dichter.
We live in a political world
Love don’t have any place
We’re living in times where men commit crimes
And crime don’t have a face
*
Es kam vor, dass die Tür aufgerissen wurde und Verena in die Gespräche platzte. Sie hatte die Probezeit in der Glaswerkstatt leichthin aufgegeben und sich vielmehr für Lucias Sozialprojekte im Rahmen von GO FOR BETTER interessiert, vor allem für die Errichtung eines Frauenhauses, an dem Lucia mit ungebrochener Überzeugung für dessen Notwendigkeit arbeitete.
Verena erstaunte Tom immer wieder. Sie war gerade neunzehn und hatte ein Auftreten, das er so nicht kannte. Er war jetzt vierundvierzig, also mehr als doppelt so alt, aber diese Selbstverständlichkeit der Welteroberung hatte er nie besessen und würde er nicht mehr erreichen. Er bewunderte das Mädchen, zugleich war er in einem Maß verstört, das ihn selbst überrumpelte. Für Verena gab es kein Problem, kein Zögern, wenig Zweifel. Sie wusste alles, kannte alles und war dennoch nicht anmaßend. Es war die herrliche Lebenskraft eines jungen Menschen, dem die Welt gehört, der sich nahm, was er wollte, und der sehr genau wusste, was er wollte. Lachend ergriff sie Besitz von Menschen und Ideen und sammelte Weltentwürfe wie andere Sportschuhe. Sie redete viel und schnell, aber selten Banales, lachte laut und ansteckend und ihre Augen funkelten unter dem blauen Eyeliner. Sie schmückte sich mit Ketten und Ohrringen, oft nur einem einzigen, extravaganten aus der Sammlung, die sie aus Usbekistan mitgebracht hatte, schaute hinreißend aus in ihren H&M- Klamotten und sprang mit ihren Ballerinas leicht wie ein Ball durch die Räume. Beim Abendessen fragte sie nicht lange, sondern nahm sich die besten Stücke und alle freuten sich über ihren Appetit. Wenn man ihr Saft oder Wein nachschenkte, schob sie einem das Glas gnädig hin, als ob es eine Ehre wäre, ihr einschenken zu dürfen. Danke sagte sie nicht, denn sie erzählte schon wieder lebhaft von den Seidenhändlern auf dem Markt von Taschkent oder vom Skypen mit dem afrikanischen Drummer, den sie vor ein paar Tagen in Kolness kennengelernt hatte. Wenn Männer in der Nähe waren, saß sie lässig da, mit gespreizten Beinen, aber es sah ganz natürlich aus und sie redete über die sexuellen Gepflogenheiten in unterschiedlichen Ländern und fragte, wie die Anwesenden es damit hielten. Es klang arglos und naiv, aber unauffällig setzte sie die Verführungskunst einer Kurtisane ein. Sie war eine exzellente Schwimmerin, nahm Tanzunterricht und hatte im Garten eine Slackline gespannt, einen Meter hoch und in weitem Abstand zwischen den Ringlottenbäumen. Auf ihr balancierte sie zum Gaudium aller und genoss die Bewunderung, die ihr entgegengebracht wurde. Alles hatte Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit. Ihr blondes Haar, das mitunter stumpf wirkte, kämmte sie jeden Tag anders, aber immer passte es zu ihr. Sie hatte keine Ahnung von Suchen, so schien es, auf ihrem Weg fand sie alles, was sie wollte, und nahm es in die Hand.
War sie im Raum, sprach Tom wenig. Er betrachtete diese ungebrochene Lebensenergie, war davon heftig berührt, weil sie ihm in diesem Ausmaß nicht – oder nicht mehr? – zur Verfügung stand und sie ihn alt machte. Zum ersten Mal fühlte er sich alt. Wenn sie ihn am Arm berührte oder zum Abschied kurz auf die Wange küsste, kam er sich vor wie ihr Onkel. Und er überlegte, ob nicht die Sommermädels am See ihn auch so sahen, als netten Oldie, und nicht als potentiellen Liebhaber oder zumindest als Flirtobjekt.
An Verena sah Tom, dass das Leben von ihm abrückte, ein winziges Stück nur, aber dennoch. Etwas hatte, vielleicht in den letzten Jahren schon, losgelassen in ihm, er war gleichgültiger geworden. Es kam unmerklich, über die Fingerspitzen vielleicht oder die Iris, aber jetzt spürte er es. Und plötzlich erfasste ihn, als Schwall vom Kopf bis in die Mitte seines Körpers, die Sucht nach diesem Leben, er wollte wieder oder immer noch dazugehören, und das ganz und gar. Früher hatte er es, ohne es zu bedenken, jetzt wollte er es. Eine große, stille Traurigkeit war in ihm bei dem Gedanken, keine abenteuerliche, leichtfertige Zukunft mehr zu haben oder nur mehr
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