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An diesem einen Punkt der Welt - Roman

An diesem einen Punkt der Welt - Roman

Titel: An diesem einen Punkt der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brita Steinwendtner
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Grabenphilosophen .
    Wenn Tom zufällig vorüberging in seinem immer gleichen Parka, grüßte er freundlich durch den Schneeregen und man grüßte freundlich zurück.
    Er half, ihre Häuser aufzumauern, verlegte ihre Böden, unterrichtete ihre Männer, war der Initiator wichtiger Sozialprojekte und der Vorantreiber politischer Veränderungen, gestaltete ihre Dorfzeitung, führte ihre Jugendlichen zur Literatur, lehrte sie das Gitarrespiel, führte die Kleineren in den Lamandergraben, um ihnen die Natur zu erklären, er lebte seit fast zwanzig Jahren im Dorf, aber er war immer noch ein Rätsel, weil er nicht war wie sie.
    Gerne sah man es, dass er doch von Zeit zu Zeit in die Kirche ging. Denn die Kirche war den Dörflern heilig, sie war die Arbeitgeberin. Die Leute wussten nicht, dass er die rot gewandete und fanfarenumjubelte Maria auf dem Hochaltarbild mied, sondern durch die schmale Pforte und die Sakristei zur anderen Maria ging. Zur einsamen braun-goldnen Maria im zugigen Gang mit dem Kind.
    Sie hatte auf ihn gewartet.
    So schien es ihm, als er sie nach dem Prärienland wieder besuchte.
    War ihr Lächeln ein wenig herzlicher?
    Freute auch sie sich über das Wiedersehen?
    Beschützt fühlte er sich nicht von dieser Frau, aber still verstanden.
    Wer soll das verstehen.
    In seinem Bücherlabyrinth zu Hause hatte Tom ein Gebetbuch aus dem Jahr 1773, dessen verschnörkelte Schrift und Ausdrucksweise er liebte und in dem er gerne blätterte.
    Du Königin der Himmel, Gieb meinem Herzen die Reinigkeit, meinen Werken die Gerechtigkeit, meinem Munde die Behutsamkeit, damit ich niemalen mit einigem Worte mich verstoße: gieb mir auch die Sanftmuth, und Geringschätzung meines Herzens …
    Warum Geringschätzung? Das Ich nichts wert? Oder jetzt, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, nur Leerformel für die Werbung, weil ich es mir wert bin –? Das muss ich mit Parmenides besprechen, sagte sich Tom, er war auf dem Weg zu ihm in das Oberdorf. Im Haus der Freunde Wärme, Küchenduft, Gespräche. Draußen war feuchtkalter Winter. Die Nebel hingen tief, die Schuhe waren durchnässt. Amseln saßen aufgeplustert auf schwarzen Zweigen. Die Bauern hatten mit dem Schnapsbrennen begonnen.
    Gemeinsam planten sie die nächste Griechenlandreise, Roberta würde dabei sein. In den dunklen Monaten war es gut, an das Land des Lichts zu denken. Sie wollten diesmal auf die Insel Lesbos, auf den Spuren der Dichterin Sappho aus dem 6. oder 7. Jahrhundert vor Christus.
    Dann müssen wir auch nach Lefkas, sagte Tom.
    Lefkas im Ionischen Meer? Parmenides war überrascht.
    Ja, genau, nördlich von Odysseus und seinem Ithaka.
    Ist aber weit weg von Lesbos. Warum nach Lefkas?
    Weil dort behauptet wird, Sappho hätte sich von ihren Klippen in das Meer gestürzt.
    Interessant, das wusste ich nicht.
    Interessant vor allem als Beispiel für den Wunsch der Menschen, an etwas Bedeutendem Anteil zu haben, und sei es nur am Freitod einer unglücklichen Frau.
    War wahrscheinlich gar kein Selbstmord, sagte Parmenides, sie dürfte alt geworden sein.
    Auf beiden Inseln macht ja auch das Gerücht die Runde, dass ihr Geliebter, ein Fischer, im tosenden Meer auf sie gewartet und versucht habe, sie zu retten. Der Grillparzer hat sich’s ja auch so erdichtet …
    Schade, dass es so wenig gespielt wird, sein Theaterstück um Sappho.
    Jedenfalls, sagte Tom, was von ihr bleibt, ist nicht Lesbos oder Lefkas, auch nicht, ob sie Männer oder Mädchen geliebt hat, sondern es sind ihre Dichtung und das kleine, revolutionäre Wort, das sie, soweit ich weiß, zum ersten Mal gebraucht hat: Ich. Ein Ich, das sich gegen Götter und Konvention stemmt und die Augen aufschlägt in ein neues Denken ...
    ... ja, das , liebe Freunde, ist Literatur – Tom sprach emphatischer als sonst –, sie muss die Fähigkeit haben, uns mit einem Tamburschlag in eine neue Welt zu katapultieren, und sie muss uns diesen einen Punkt, diesen wahnsinnigen und unmerklichen Augenblick sichtbar machen, in dem Gewinnen und Verlieren ineinander übergehen. Und wenn wir uns verschließen, ist alles umsonst, dann schneiden wir das tägliche Brot, füllen den Tank mit neuem Benzin und wissen nicht, dass Angst und Sexualität die Welt beherrschen, dass die Luft voll von unseren Schreien und das Leben ein Phosphorspiel ist, dass wir gescannt sind und uns dennoch die Welt in einen Purpurfrühling verwandeln können …
    Roberta brachte heißen Holunderblütentee.
    Warum schreibst du nicht über Literaturtheorie, fragte

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