An einem Tag im Winter
kannte â er war zu scheu, zu zurückhaltend, um Nähe zuzulassen. India hatte etwas von einer Krankheit angedeutet, nachdem Sebastian aufs Internat gekommen war, einer Krankheit, die es notwendig gemacht hatte, ihn wieder nach Hause zu holen, wo er dann eine kleine Privatschule besucht hatte. Sie spürte an Sebastian eine Zerbrechlichkeit, die sie manchmal erschreckte; sie meinte, die inneren Kämpfe zu ahnen, die er auszufechten hatte, und begegnete ihm instinktiv mit groÃer Behutsamkeit.
Wieder schweiften ihre Gedanken zu Riley. Ellen erinnerte sich mit einiger Verlegenheit an ein Gespräch, das sie in jenen kurzen unwirklichen Wochen zwischen Dr. Redmonds Tod und ihrer Entlassung aus Gildersleve geführt hatten. Sie war zornig gewesen und hatte ihm vorgeworfen, zu gleichgültig zu sein, um der Wahrheit von Dr. Redmonds Tod auf den Grund gehen zu wollen. Anstatt sie abblitzen zu lassen, wie sie es verdient gehabt hätte, hatte er ihr ein Gespräch im Green Man in Copfield angeboten. Es war eine groÃzügige Geste gewesen. Er hatte sicher mehr als genug zu tun gehabt mit seiner Arbeit und seiner Familie, trotzdem hatte er sich Zeit für sie genommen.
Sie nahm ihr Adressbuch aus ihrer Aktentasche und blätterte es durch. Ja, die Telefonnummer, die Riley ihr damals gegeben hatte, hatte sie noch. Sie fragte sich flüchtig, warum sie sich die Nummer überhaupt aufgeschrieben hatte â Gewohnheit, vermutete sie.
Riley stand morgens immer ums sechs auf, damit er sich fertig machen konnte, bevor er Annie aus dem Bett holte. Sie hatten einen denkbar engen Zeitplan.
Um Viertel vor sieben weckte er sie und brachte ihr einen Becher Milch. Sie beschwerte sich, dass die Milch nach Gemüse schmecke (Annie aà nicht gern Gemüse), aber mit viel gutem Zureden brachte er sie immer dazu, sie zu trinken. Dann ins Bad zum Waschen und Zähneputzen, und wenn sie fertig angekleidet war, aà sie in der Küche ihre Rice Krispies, während Riley einen Toast hinunterschlang und eine Einkaufsliste schrieb.
Wenn Annies Haare gemacht waren, sah er nach, ob sie alles hatte, was sie für die Schule brauchte (Taschentuch, Schal und Handschuhe, Turnschuhe), dann kam schon Renée, die Annie morgens zur Schule brachte und nachmittags wieder abholte, und Riley gab Annie noch einen Abschiedskuss, bevor er ging. Renée, eine junge Schweizerin, die an der Berlitz-Schule Englisch lernte, war ein wahres Gottesgeschenk. Sie hielt morgens den Haushalt in Ordnung und kümmerte sich nachmittags um Annie, bis er nach Hause kam. Annie mochte sie und hatte sie ohne allzu viel Trotz und Aufbegehren akzeptiert.
Gleich nach seiner Ankunft im Büro setzte sich Riley mit seinem Superintendent zusammen, um mit ihm zu besprechen, wie sie gegen die dreisten Gangsterbosse vorgehen wollten, die versuchten, London unter sich aufzuteilen. Riley sprach sich für Abwarten und Beobachten aus. Wenn man zu früh losschlug, erwischte man nur die kleinen Fische, meinte er, die Handlanger, nicht die Drahtzieher, die hinter den Aktionen standen. Die würden untertauchen und die geschassten FuÃsoldaten augenblicklich durch neue ersetzen.
Die Sitzung war gerade beendet, als ein Leichenfund in einem Lagerhaus in der Great Dover Street gemeldet wurde. Riley, der genug Büroluft geatmet hatte, nahm Sergeant Davies mit und fuhr zur anderen Seite des Flusses hinüber. Das Lagerhaus war das einzige noch verbliebene Gebäude auf einem groÃen Trümmergrundstück. In der Nacht hatte es Frost gegeben, und Eiskrusten säumten das Wasser in den Pfützen. Auf einer Seite des Grundstücks ragten die rostfarbenen, geometrischen Formen alter Backsteinmauern auf. Vor dem Lagerhaus standen Männer in Arbeitsanzügen auf Hacken gelehnt und rauchten.
Der Tote war ungefähr vierzig Jahre alt, korpulent, mit leicht ergrautem lockigem Haar. Riley sah ihn sich genau an, um zu prüfen, ob er ihm bekannt war, aber wenn ja, so konnte er sich nicht erinnern, und mit einer Spitzhacke im Schädel sah sowieso niemand aus wie vorher. Er gab Anweisung, die Spuren zu sichern und Aufnahmen zu machen, dann sprach er mit dem Eigentümer des Lagerhauses, einem Mr. Rossiter. Er bemerkte die Rolex-Uhr an Mr. Rossiters Handgelenk und seinen Kaschmirmantel.
Nachdem der Tote weggebracht worden war, kehrte er nach Scotland Yard zurück und beauftragte Sergeant Davies, im Archiv nach Hinweisen auf Mr. Rossiter
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