An einem Tag im Winter
dafür wissen wollte.«
»Und was hat er gesagt?«
»Es habe nur seiner damaligen Einschätzung meiner Fähigkeiten entsprochen. Es tue ihm leid, dass es mir so schwerfalle, meine Kündigung zu akzeptieren, dass ich mir irgendwelche phantastischen Erklärungen dafür zurechtlegen müsse. Er rate mir dringend, meine persönliche Einschätzung meiner Fähigkeiten zu überprüfen.«
Riley zog die Brauen hoch. »Puh!«
»Genau«, erwiderte sie zornig. »Und mir ist nicht mal eine passende Antwort darauf eingefallen.«
»Die passenden Antworten fallen einem immer erst hinterher ein.« Er lächelte.
»Ist ja jetzt auch nicht mehr wichtig. Ich mag meine Arbeit im Krankenhaus, und ich lebe unheimlich gern in London.«
Mit einem Gefühl leichter Beklemmung sah sie bei einem Blick auf die Uhr, dass sie sich zu ihrer Verabredung mit Simon schon verspätet hatte. Entschuldigend sagte sie, sie müsse jetzt leider aufbrechen, und gemeinsam verlieÃen sie das Café. Ellen fragte Riley, wo er jetzt lebe.
»In Tufnell Park.«
»Und Ihrer Frau â ach, Sie haben doch auch eine kleine Tochter, nicht? Geht es ihnen gut?«
»Ja, Annie geht es sehr gut.« Sein Gesicht verschloss sich ein wenig, und er wandte einen Moment den Blick ab. Dann sah er sie wieder an und sagte mit steinerner Miene: »Meine Frau hat mich vor drei Monaten verlassen. Ich habe sie seither nicht gesehen, und ich habe auch keine Ahnung, wo sie ist. Es hat mich sehr gefreut, Sie wiederzusehen, Ellen. Geben Sie gut auf sich acht.«
Dann ging er davon, in Richtung Kingâs Cross, und war bald in der Menschenmenge verschwunden.
Ellen und Simon sahen sich seit über zwei Monaten mehr oder weniger regelmäÃig, lange genug, um einander kennenzulernen. Es gab einige gemeinsame Interessen, die sie verbanden, und er war ein netter und herzlicher Mensch, aber er hatte auch Angewohnheiten, die sie zunehmend störten: eine Neigung, sich mit seiner Gesundheit zu beschäftigen und endlos von sich zu reden, sowie einen Hang, kleine Geschichten über irgendwelche Ereignisse zu epischer Länge aufzublasen, sodass ihnen jeder Witz verloren ging. Sie wusste, dass sie die Beziehung beenden musste, aber bisher war jeder ihrer zaghaften Versuche an Simons blinder Anbetung wie an einer Mauer abgeprallt. Es war schwer, sich, ohne zu verletzen, von einem Mann zu trennen, der einem ständig sagte, man sei das Beste, was ihm in seinem Leben widerfahren war. Sie musste der Tatsache ins Auge sehen, dass Takt und, wenn nötig, auch Rücksichtnahme über Bord geworfen werden mussten. Heute Abend musste sie deutliche Worte sprechen und Schluss machen.
Umgeben vom Lärm in der U-Bahn dachte Ellen an Riley. Sie hatte während ihres kurzen Zusammentreffens fast die ganze Zeit nur von sich geredet â vielleicht hatte sie sich von Simon anstecken lassen â, dabei war ihm gerade etwas Schreckliches widerfahren, was ihm wahrscheinlich das Herz gebrochen hatte. Seine Frau hatte ihn verlassen â und offenbar auch ihre gemeinsame kleine Tochter. Wie konnte man nach so einem Schlag weiterleben? Sie wusste, wie sie sich nach ihrer Entlassung gefühlt hatte, und das war bloà eine berufliche Niederlage gewesen, wie schlecht musste es ihm da erst gehen. Er schien ihr ein ernsthafter Mensch zu sein, intelligent und einfühlsam, sicherlich tiefer Gefühle fähig, wie wurde er da mit dem Verlust einer Frau fertig, die er geliebt hatte? Hatte er Freunde, Familie? Oder verschloss er, wie so viele Männer, seine Gefühle in sich selbst?
Sie wusste, was für ein Glück sie mit ihrer eng verbundenen Familie hatte, die immer für sie da war. Sie konnte sich nicht erinnern, je ein Wort der Kritik von ihren Eltern gehört zu haben, und wenn auch Joe gern einmal stichelte, wusste sie doch, dass er für sie jederzeit durchs Feuer gehen würde, genau wie sie für ihn.
Immer, wenn sie mit India und Sebastian zusammen war, erlebte sie deutlich, welch schwerwiegende Folgen es für einen Menschen hatte, in einer zerrütteten Familie aufwachsen zu müssen. Zweifellos war das Fehlen eines sicheren Fundaments, einer zuverlässigen Stütze eine Ursache von Indias Haltlosigkeit â vielleicht sogar ihrer Neigung, sich immer alles zu nehmen, was ihr gerade gefiel. Ellen hätte nicht behaupten können, dass sie Sebastian gut
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