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An einem Tag im Winter

An einem Tag im Winter

Titel: An einem Tag im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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um Ellen nicht zu stören, kratzte sie sich am Bein.
    Der Redner erzählte etwas von Krankheiten und Blut. India versuchte, sich zu konzentrieren, aber sie verstand nichts von dem, was er sagte, außerdem setzte sich der Ausdruck »schlechtes Blut« in ihrem Kopf fest und verharrte dort. Konnte Blut schlecht sein? Konnte es von einem finsteren Makel durchdrungen sein, der den Charakter eines Menschen färbte und ihn zeichnete? Und wenn dem so war, hieß das dann nicht, dass man dazu verdammt war, für immer so zu bleiben, wie man war? Konnte man sich verändern, einen anderen Menschen aus sich machen, wie Ellen zu glauben schien, oder hatte derjenige, in dessen Adern dieses schlechte Blut floss, gar keine andere Möglichkeit, als sich dem zu beugen, was ihm zugeteilt wurde?
    Endlich kam – Tatarata! – der erlösende Moment, und alle begannen zu klatschen. Ein anderer Mann trat vor und dankte dem Redner, bevor er sagte: »Unser Gast ist gern bereit, jetzt Fragen aus dem Publikum zu beantworten.« Ellen rutschte vorgebeugt bis zur Stuhlkante, und India glaubte schon, sie würde die Hand heben, um eine Frage zu stellen, aber sie tat es nicht. Die Fragen, die samt und sonders völlig uninteressant waren, schienen kein Ende nehmen zu wollen, India musste sich immer wieder auf die Unterlippe beißen, um ein Gähnen zu unterdrücken.
    Schließlich folgten zu ihrer ungeheuren Erleichterung weitere Dankesworte, neuerlicher Applaus, und dann standen die Leute geräuschvoll von ihren Sitzen auf.
    Ellen sagte: »Warte hier auf mich, India, ich bin gleich wieder da. Rühr dich nicht vom Fleck.« Und schon eilte sie den Mittelgang hinunter.
    India nahm ihre Handtasche, stand auf und zupfte ihr Kleid zurecht (schwarze Moiré-Seide mit einem weißen Angora-Bolero), dann folgte sie Ellen die Stufen hinunter. Ellen stand etwas abseits von einer Gruppe von Leuten, die den Redner umringte. Ein Dicker mit fast kahlem Schädel sprach India an und lobte den Vortrag in den höchsten Tönen. »Dr. Pharoah ist wirklich ein begnadeter Redner«, schwärmte er, und India sagte höflich: »Ja, nicht wahr?«, obwohl sie sich halb zu Tode gelangweilt hatte.
    Als sie sah, dass Ellen mit diesem Dr. Pharoah sprach, trat sie näher. Ellen warf ihr einen ärgerlichen Blick zu, und India erinnerte sich schuldbewusst, dass sie versprochen hatte, sich nicht vom Fleck zu rühren.
    Der Mann fragte: »Wollen Sie mich nicht Ihrer Freundin vorstellen?«, und Ellen erwiderte ziemlich kurz angebunden: »India, das ist Dr. Pharoah. Dr. Pharoah, das ist Miss Mayhew.« Dann rief jemand laut: »Ellen! Hallo! Wie geht’s dir denn? Wir haben uns ja Ewigkeiten nicht gesehen, ich dachte schon, du wärst ausgewandert!«, und Ellen wandte sich leicht irritiert ab.
    Â»Auf welchem Gebiet arbeiten Sie, Miss Mayhew?«, fragte Pharoah, an India gewandt.
    Â»Na ja, so fest lässt sich das nicht umreißen.«
    Â»Sie interessieren sich wohl für erbliche Krankheiten?«
    Â»Nein, wirklich nicht.«
    Er lachte. »Sagen Sie jetzt nur nicht, dass Sie sich gelangweilt haben. Das würde mich niederschmettern.«
    Er sah blendend aus, war ziemlich alt und viel zu sehr von sich überzeugt. »Wenn Sie es genau wissen wollen, ich habe mich ins Bodenlose gelangweilt«, sagte sie. »Ich wäre beinahe eingeschlafen.«
    Er wirkte überhaupt nicht niedergeschmettert. »Dann muss ich daran denken, mich mit Ihnen über andere Dinge zu unterhalten, wenn wir uns das nächste Mal begegnen.«
    Â»Ach, da brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen«, erwiderte sie. »Ich glaube nicht, dass wir in denselben Kreisen verkehren. Guten Abend, Dr. Pharoah.« Sie wusste, dass er ihr nachschaute, als sie die Stufen des Hörsaals hinaufging.
    Am Freitagabend blieb Ellen länger im Labor, um Professor Malik zu helfen, einen Schub eiliger Proben zu bearbeiten, der kurz vor Feierabend hereinkam. Ihr war aufgefallen, dass er sie seit ihrem Gespräch über Marcus Pharoah ermutigte, anspruchsvollere Aufgaben zu übernehmen und selbstständig Untersuchungen und Analysen durchzuführen.
    Erst um acht war sie mit ihrer Arbeit fertig. Als sie ging, nahm sie einen kleinen Stapel Befunde mit, die abzugeben Malik sie gebeten hatte, und händigte sie der Stationsschwester der Unfallstation aus. Dann eilte sie durch die Eingangshalle der Ambulanz ins

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