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An einem Tag wie diesem

An einem Tag wie diesem

Titel: An einem Tag wie diesem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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klopfte er an die Glastür, und der Besitzer schob den Vorhang etwas beiseite und schloss nach einem misstrauischen Blick die Tür auf und ließ Andreas hinein. Damals hatten fast alle Nächte im
Cordial
geendet mit wirren Gesprächen, die immer zähflüssiger wurden und schließlich erstarben. Wenn Andreas am Morgen mit der RER zur Arbeit fuhr, spürte er oft noch den Alkohol der vergangenen Nacht, und er musste sich Mühe geben, nicht einzuschlafen und seine Station zu verpassen. Der schmale Raum starrte vor Schmutz. Das Gestell, auf dem früher die Flaschen gestanden hatten, war leer geräumt. In einer Ecke stapelten sich Stühle und Tische. Dahinter war eine Fototapete, an die Andreas sich plötzlich wieder erinnerte. Eine vergilbte Gebirgslandschaft, ein kleiner, von Wald umfasster See vor einer Kulisse aus schneebedeckten Bergen. Das Bild musste von einem früheren Besitzer stammen. Der Wirt und die meisten Gäste des Lokals waren Algerier. Andreas fragte sich, wo Paco war, wohin es ihn verschlagen hatte und seine schöne Frau, die ihren Mann herumkommandiert hatte wie ein Kind.
    »Das Hotel war miserabel«, sagte Andreas, »aber ich war ja noch jung. Die Dusche und die Toilette teilte ich
mit zwanzig anderen Leuten. Wenn es heiß war im Sommer, musste man eine halbe Stunde lang anstehen, bevor man duschen konnte. Man musste Jetons kaufen für warmes Wasser. Wenn wir kein Geld hatten, duschten wir kalt.«
    »Das würde ich nicht aushalten«, sagte Delphine. »Ich muss mein eigenes Bad haben.«
    Sie sagte, sie werde hier wohnen bleiben, bis sie in Versailles etwas gefunden habe. Aber sie wolle das Zimmer auf jeden Fall vor den Ferien räumen.
    Sie bezahlten und traten aus dem Bistro. Delphine ging los, ohne dass einer von ihnen etwas gesagt hätte. Andreas liebte diese Momente, in denen alles entschieden war, aber noch nichts gesagt oder geschehen. Er folgte Delphine. Vorher waren sie nebeneinander gegangen, jetzt ging sie voraus und er so dicht hinter ihr, dass er sie beinah berührte. Sie trug billige Kleider, Jeans, ein weißes T-Shirt und eine Stoffjacke mit Nieten. Es war Andreas, als bewege sie sich anders als zuvor, selbstbewusster, als wisse sie, woran er dachte. Sie sprachen nicht, auch nicht, als Delphine vor einem Haus stehen blieb und auf einer Tastatur neben der Tür einen Code eintippte. Sie hielt ihm die Tür auf, und er folgte ihr durch den Hinterhof und eine Treppe hinauf. In der vierten Etage blieb er stehen. Er war außer Atem und musste husten.
    »Du rauchst zu viel«, rief Delphine, die schon ein Stockwerk höher war.
    Als er in der oberen Etage ankam, war sie verschwunden. Eine Tür stand offen.
    Das Zimmer war mit einfachen Möbeln eingerichtet, denen man ansah, dass jemand sie gekauft hatte, der sie nicht selbst benutzen würde. Im Büchergestell standen kaum Bücher, und außer einer zerpflückten Basilikumstaude auf dem Tisch gab es keine Pflanzen. Auf dem Bett lag ein Schlafsack auf der nackten Matratze. Am Boden daneben stand eine riesige blaue IKEA -Tasche mit schmutziger Wäsche. Delphine sagte, sie müsse noch in den Waschsalon heute. Andreas trat an das kleine Fenster und schaute hinaus.
    »Eine schöne Aussicht hast du.«
    »Ich bin ja nur zum Schlafen hier.«
    Er drehte sich zu ihr um. Sie hatte sich auf das Bett gesetzt und schaute ihn herausfordernd an. Er wusste, was sie von ihm erwartete. Er würde sie küssen, sie würden miteinander schlafen auf der fleckigen Matratze, dann würde er sie in den Waschsalon begleiten. Später würde er sie zum Essen einladen, und danach würden sie vielleicht noch einmal miteinander schlafen, und er würde heimlich auf die Uhr schauen, um die letzte RER nicht zu verpassen. Er würde sich anziehen, sie würde ihn zur Tür begleiten, und auf der Treppe würde er sich noch einmal umdrehen, wie es sich gehörte. Danach würden sie vermutlich nie wieder voneinander hören.
    Delphine war aufgestanden und zu ihm ans Fenster getreten. Ihre Schultern berührten sich, und er roch ihr Parfum, einen frischen, zitronigen Duft. Nach Sommer, Sonne und Blumenfeldern, dachte er und musste lachen.
    »Weshalb lachst du?«, fragte Delphine irritiert.
    »Mir ist etwas eingefallen«, sagte Andreas, »eine Geschichte, die ich gelesen habe. Eine Liebesgeschichte.«
    Er fragte, was für ein Parfum sie benutze. Sie fragte, ob er es möge. Ja, sagte er. Er musste wieder lachen. Die ganze Situation kam ihm vor wie ein Zitat.
    »Was ist daran so lustig?«
    »Du hast

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