An einem Tag wie diesem
eines Lieferwagens, der nicht an ihr vorbeikam. Mitten im Satz brach sie ab, stieg in den Wagen und lehnte sich über den Beifahrersitz, um Andreas die Tür zu öffnen. Sie machte dem Fahrer des Lieferwagens ein Handzeichen und fuhr los.
Das Krankenhaus lag direkt hinter der Gare du Nord. Auf dem Weg zur Arbeit war Andreas jeden Tag daran vorbeigegangen, ohne es zu beachten. Delphine hielt vor dem Haupteingang und küsste ihn auf den Mund.
»Viel Glück«, sagte sie. Sie sagte, sie werde in der Nähe bleiben. Er solle sie anrufen, wenn er fertig sei.
»Ich weiß nicht, wie lange es dauert«, sagte Andreas.
»Das macht nichts. Ich habe ein Buch dabei.«
Die Operation dauerte nicht lange, aber danach musste Andreas sich für ein paar Stunden hinlegen, obwohl er nur örtlich betäubt worden war. Als man ihn wieder aufstehen ließ, rief er Delphine an. Sie sagte, sie werde in einer Viertelstunde da sein. Er solle beim Eingang auf sie warten. Er trat auf den großen Hof, der von dreistöckigen Gebäuden aus hellem Stein umgeben
war. Der Komplex erinnerte ihn an eine Kaserne oder ein Gefängnis. In der Mitte des Hofes war ein von einer niedrigen Hecke eingerahmtes Stück Rasen, am anderen Ende ein Turm mit einer Uhr. Es war halb fünf. Der Hof war menschenleer, nur dann und wann ging ein Arzt oder jemand vom Pflegepersonal mit eiligen Schritten vorbei. Es war erstaunlich still, vom Betrieb der Stadt war nichts zu spüren.
Andreas stellte sich vor, wie es wäre, hier Wochen und Monate zu verbringen, hinter einem der Fenster zu liegen, geschwächt von einer Operation oder einer Therapie. Er würde kaum die paar Schritte bis zum Fenster schaffen oder hinaus in den Flur. Seine Kraft reichte nicht aus, sich irgendwohin zu wünschen als zurück ins Bett, zurück in den Dämmerschlaf, in dem er die Tage und Nächte verbrachte. Dann war er plötzlich hellwach, mitten in der Nacht. Er lauschte. Draußen regnete es, und die Geräusche des Regens vermischten sich mit den Atemgeräuschen seines Bettnachbarn. Er stand auf und trat aus dem Zimmer. Er ging durch dunkle Flure und breite Treppen hinunter zum Ausgang. Er schlich sich am Portier vorbei, ging durch die Stadt, barfuß und nur im Pyjama. Sich eine Erkältung holen, dachte er, sich den Tod holen. Diese seltsamen Sätze. Eine Polizeistreife wollte ihn anhalten, aber er entkam durch eine Fußgängerpassage.
Andreas trat auf die Straße. Ein paar Touristen schleppten eilig große Schalenkoffer über die Fahrbahn zum Bahnhof. Für einen Moment dachte er daran, den erstbesten Zug zu nehmen und zu verschwinden, wegzufahren, irgendwohin, wo man ihn nicht finden würde.
Er bemerkte Delphine nicht, die nur wenige Meter von ihm entfernt den Wagen angehalten hatte. Sie musste das Fenster herunterkurbeln und ihn beim Namen rufen.
Delphine bewegte sich in der Wohnung, als sei sie schon oft hier gewesen. Sie kochte Tee für Andreas. Sie fand alles auf Anhieb, die Teebeutel, die Kanne, die Streichhölzer, um das Gas anzuzünden.
Andreas hatte einen Pyjama angezogen und sich aufs Sofa gelegt. Er fror, obwohl es nicht kalt war. Delphine holte ihm eine Decke aus dem Schlafzimmer und setzte sich in einen Sessel ihm gegenüber. Er lächelte, und sie runzelte fragend die Stirn.
»Bist du meine Geliebte oder meine Krankenschwester?«
»Ich bin es gewöhnt«, sagte sie. »Meine Mutter war oft krank.«
Andreas wunderte sich, dass ihm die Situation nicht peinlich war. Wenn er früher krank gewesen war, hatte er sich verkrochen und alle Hilfsangebote und Besuche abgewehrt. Jetzt war er froh, dass Delphine da war und sich um ihn kümmerte und mit ihm redete.
»War es schlimm?«
»Es hat nicht wehgetan, es tut auch jetzt nicht weh. Aber die Vorstellung, dass sie dich aufschneiden und etwas in dich hineinstecken, ist schrecklich.«
Er sagte, er möge jetzt nicht darüber reden. Er wolle sich nur ein wenig ausruhen. Delphine fragte, ob sie ihm etwas vorlesen solle. Sie trat ans Büchergestell und las die Titel.
»Jack London«, sagte sie, »war das nicht dieser Goldgräber? Worauf hast du Lust? Deutschland verstehen, Luftbild Schweiz, Der Richter und sein Henker? Eine kurze Grammatik der deutschen Sprache, Bertolt Brecht?«
Sie stöhnte.
»Liest du deutsch?«
Delphine sagte, sie habe es in der Schule gelernt, aber das meiste habe sie vergessen. Andreas zeigte auf das kleine Büchlein, das auf dem Beistelltisch lag. Das sei einfach zu lesen, sagte er, Schullektüre. Delphine entzifferte
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