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An einem Tag wie diesem

An einem Tag wie diesem

Titel: An einem Tag wie diesem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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den Titel.
    »Liebe ohne Grenzen«, sagte sie. »Sowas mutest du deinen Schülern zu?«
    »Nein«, sagte Andreas und schloss die Augen. Delphine räusperte sich und begann zu lesen.
    Es war an einem warmen Frühlingstag, als ich Angélique zum ersten Mal sah. Ich wusste gleich, dass sie nicht von hier war. Sie trug andere Kleider als die jungen Mädchen aus unserer Gegend. Bei uns tragen die Mädchen Jeans. Sie fahren Rad und reden so laut wie die Jungs. Angélique trug einen Rock. Sie ging durch das Dorf. Sie hatte einen Einkaufskorb in der Hand und schaute sich neugierig um ...
    Delphine las langsam und mit leiser Stimme. Manchmal betonte sie die Worte so falsch, dass Andreas sich konzentrieren musste, um dem Text folgen zu können. Nach einer Weile gab er es auf und hörte nur noch auf die Melodie der Sprache.
    Er versuchte sich vorzustellen, wie Fabienne durch das Dorf ging, aber es gelang ihm nicht. Er erinnerte sich kaum noch an ihr Gesicht. Er sah Sylvie vor sich und Nadja, die Lehrerin mit den großen Brüsten und, als er die Augen kurz öffnete, Delphine, die sich über das Buch beugte und langsam und konzentriert die deutschen Sätze formte, von denen sie selbst wohl nur die Hälfte verstand. Er dachte an die ersten Lektionen im Deutschlehrbuch, an die Sprachkassetten, auf denen teilnahmslos-freundliche Stimmen sinnlose Sätze aufsagten:
Das Gras ist grün. Der Himmel ist blau. Die Tanne ist hoch.
Und dann diese erwartungsvolle Stille, die die Sätze zu Fragen machte. War das Gras wirklich grün? War der Himmel blau? Und endlich wieder die Stimme, die den Satz wiederholte. Das Gras war grün, und die Welt war so, wie sie immer gewesen war.
    Andreas dachte daran, wie er Fabienne kennengelernt hatte. Es war am zwanzigsten Geburtstag von Beatrice gewesen, Manuels Schwester, mit der er später gegangen war. Damals kannte er Beatrice nur flüchtig. Er hatte sie ein paar Mal getroffen, wenn er mit Manuel Hausaufgaben machte. Vermutlich hatte sie ihn wegen ihres Bruders eingeladen, der nicht viele Freunde hatte. Fabienne war damals neu gewesen im Dorf. Er konnte sich nicht erinnern, woher Beatrice sie kannte.
    Das Fest fand in einer Waldhütte statt. Der Wald grenzte an das Industriegebiet und an eine Kiesgrube, aber die Hütte lag auf der anderen Seite, in der Nähe des Flusses. Als Andreas kam, brannte schon ein großes
Feuer. Ein Dutzend junger Männer und Frauen standen herum und redeten. Er lehnte sein Fahrrad an einen Baum und schaute den anderen bei den Vorbereitungen zu. Die meisten kannte er nur vom Sehen. Zwei junge Männer kamen mit riesigen Bündeln Holz aus dem Wald und warfen sie neben dem Feuer auf den Boden. Beatrice entfernte Frischhaltefolie von Salatschüsseln, und Manuel ritzte Bratwürste ein. Fabienne fiel Andreas gleich auf. Sie wich nicht von Beatrice’ Seite.
    Nach dem Essen packte Beatrice die Geschenke aus und fragte jedes Mal, von wem ist das, und bedankte sich, ohne recht hingeschaut zu haben. Andreas hatte ihr ein Buch von Albert Camus geschenkt, das er kurz zuvor gelesen hatte. Die zwei jungen Männer, die das Holz gesammelt hatten, verbrannten Pappteller und Servietten im Feuer. Andreas schaute zu, wie die Kunststoffbeschichtung der Teller schwarz wurde und sich kräuselte, bevor die Teller plötzlich Feuer fingen und mit einer grünlichen Flamme in Sekunden verbrannten.
    Es gab Kuchen, und Beatrice und Fabienne pumpten Kaffee aus einer großen Thermoskanne. Einer der jungen Männer hatte eine Gitarre mitgebracht, und es wurden christliche Lieder gesungen, die Andreas nicht kannte.
    Es eilt die Zeit, die Stunden fliehn
und keiner hält sie auf.
Auch deine Jahre gehn dahin
wie schneller Vogellauf.
    Fabienne war sehr schön im Licht des Feuers. Als Andreas’ Blick ihrem begegnete, lächelte sie. Auch sie schien die Lieder nicht zu kennen.
    Jemand fing an, Witze zu erzählen. Da schlug Beatrice vor, Verstecken zu spielen. Paare wurden gebildet, und weil die meisten der anderen sich aus einer christlichen Jugendgruppe kannten und manche schon Paare waren, blieben am Schluss nur Fabienne und Andreas übrig. Beatrice erklärte die Regeln und sagte, sie sollten nicht zu weit gehen. Sie und ihr Freund blieben beim Feuer zurück und fingen laut zu zählen an.
    Der Wald war licht, und der Mond war fast voll, aber es war schwierig, sich zu orientieren. Aus allen Richtungen waren der Lärm und das Lachen der anderen zu hören, die über den unebenen Waldboden stolperten. Andreas ging einen

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