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An einem Tag wie diesem

An einem Tag wie diesem

Titel: An einem Tag wie diesem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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Tage später war Andreas abgereist. Er erinnerte sich heute noch an den wortlosen Abschied von seinem Vater. Es war ein Samstag, und der Regionalzug war voller Leute, die ins nächste Dorf fuhren oder in die Stadt, um ins Kino oder ins Theater zu gehen. Andreas kam sich seltsam vor mit seinem großen Koffer und seinem weit entfernten Ziel. Als der Zug anfuhr, winkte der Vater. Sein Mund bewegte sich. Andreas hob nur kurz die Hand. Die Situation war ihm peinlich. Erst später hatte er gemerkt, dass er nie in dieses Dorf würde zurückkommen können. Schon wenige Monate später, als er über die Feiertage nach Hause
fuhr, war alles anders. Danach kam er immer seltener ins Dorf und schließlich gar nicht mehr.
    Andreas stellte die Fotografie zurück auf den Kamin. Er hatte nie viele Bilder von seiner Familie besessen. Die wenigen, die er geschenkt bekommen hatte, lagen in irgendeiner Schublade. Er fragte sich, weshalb er ausgerechnet dieses Bild aufgestellt hatte, ein Bild von sich selbst.
     
    Es war zehn Uhr abends. Delphine stand in der Küche und schnitt Gemüse klein. Andreas schaute ihr zu. Sie sagte, er solle sich ruhig noch einmal hinlegen, es dauere noch eine Viertelstunde, bis die Suppe fertig sei.
    »Warum tust du das?«, fragte er.
    »Was meinst du?«
    »Du könntest ins Kino gehen oder Freunde treffen oder was weiß ich.«
    »Das ist doch selbstverständlich. Wenn ein Freund krank ist ... Im Kino war ich gestern schon.«
    »Ich kann mir auch selbst eine Suppe kochen«, sagte Andreas. »Außerdem sind wir keine Freunde. Wir kennen uns ja kaum.«
    Delphine legte das Messer hin und schaute ihn entgeistert an. Sie sagte, wenn ihn ihre Anwesenheit störe, müsse er es nur sagen. Andreas entschuldigte sich. Er sagte, er habe es nicht böse gemeint.
    Nach dem Essen sagte er, er werde ins Bett gehen, die Operation habe ihn mehr mitgenommen, als er gedacht habe. Delphine trug das schmutzige Geschirr hinaus. Er hörte, wie sie den Abwasch machte und die Teller in den Schrank stellte.
    Sie hatte ihre Toilettensachen dabei, aber kein Nachthemd. Sie sagte, sie sei nicht sicher gewesen, was sie wolle, da habe sie einen Kompromiss mit sich geschlossen. Andreas lieh ihr ein T-Shirt, und sie verschwand ins Bad. Er hörte sie duschen, dann kam sie zurück und legte sich neben ihn ins Bett. Sie beugte sich über ihn, küsste ihn kurz auf den Mund und sagte gute Nacht.
    »Komm her«, sagte er. »So krank bin ich nicht.«
    Sie sagte, er müsse vorsichtig sein. Sie zog sich das T-Shirt über den Kopf und rutschte zu ihm hinüber. Ihr Körper war weich und warm und träge. Ich liebe sie nicht, dachte Andreas, ich begehre sie noch nicht einmal wirklich. Delphine setzte sich auf ihn und fing langsam an, sich zu bewegen. Sie waren beide sehr ruhig. Einmal wäre Andreas beinahe eingeschlafen, er fiel für einen zeitlosen Moment in einen dunklen Traum, dann öffnete er die Augen und sah Delphine, die immer noch auf ihm saß und sich ganz versunken bewegte, wie in einem langsamen Tanz.
    »Du wärst beinahe eingeschlafen«, sagte sie und lächelte.
    »Hör nicht auf«, sagte er.
     
    Am nächsten Tag fuhr Delphine nach Versailles, um sich einige Wohnungen anzusehen. Am frühen Nachmittag war sie wieder zurück. Sie hatte eine Sporttasche mit ein paar Sachen dabei.
    »Willst du dich hier einnisten?«, fragte Andreas.
    »Hast du etwas dagegen?«
    »Für ein paar Tage.«
    Delphine sagte, er müsse keine Angst haben. Ende des Monats fahre sie ohnehin in die Ferien.
    »Ende des Monats!«, rief Andreas mit gespieltem Entsetzen. »Und was mache ich dann?«
    »Wenn du willst, kannst du mich besuchen. Ich habe mein eigenes Zelt. Und meine Eltern sind nett.« Sie grinste und sagte, ihre Eltern seien in seinem Alter.
    Er sagte, er habe in die Bretagne fahren wollen, um Jean-Marc zu besuchen.
    »Mach dir keine Sorgen«, sagte Delphine, aber dann sprach sie nicht weiter.
    Andreas war weniger müde als am Tag zuvor. Sie fuhren mit der Metro hinunter zur Seine und spazierten dem Ufer entlang. Die Sonne schien, und es waren viele Leute unterwegs, Leute mit Hunden, mit Fahrrädern, auf Inlineskates.
    »Manchmal kommt mir Paris vor wie eine riesige Kulisse«, sagte Andreas.
    »Hast du das mal versucht?«, fragte Delphine.
    »Inlineskates? Dazu bin ich zu alt. Als ich ein Kind war, hatten die Rollschuhe vier Räder wie Autos.«
    »Gab es damals überhaupt schon Autos? Hast du ein Problem mit deinem Alter?«
    Andreas fragte, wie alt sie sei.
    »Als du

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