An einem Tag wie diesem
wettzumachen. Sie habe nach der Trennung von ihrem Mann eine libertinistische Phase gehabt, in der sie sich ziemlich wahllos auf Männer eingelassen habe. Das sei die Zeit gewesen, in der sie beide sich getroffen hätten. Es möge sein, dass sie ihn für ihre Zwecke missbraucht habe, so wie er sie missbraucht habe für seine Zwecke. Aber sie habe sich dabei von Anfang an leer gefühlt. Inzwischen sei sie wieder mit ihrem Exmann zusammen, sie wagten einen Neuanfang auf einer anderen Basis. Sie schrieb, sie wünsche ihm Glück und hoffe – hier kamen ein paar Worte, die er nicht lesen konnte –, und dass auch er die Ruhe finde, die sie jetzt verspüre.
Andreas legte das letzte Blatt auf den Tisch zu den anderen. Er war froh, dass Nadja ihm nichts nachtrug. Dass auch sie ihn ausgenutzt haben könnte, daran hatte er nie gedacht. Der Gedanke faszinierte ihn. Er wusste, man konnte alles von ihm verlangen. Er tat, worum er gebeten wurde, und wenn er merkte, dass er übervorteilt wurde, dann ärgerte er sich höchstens
über sich selbst. Es wäre alles viel einfacher, wenn man sich als Opfer sehen könnte, dachte er, als Opfer seiner Kindheit, des Schicksals, der Menschen, mit denen man zusammen gewesen war, und schließlich als Opfer einer Krankheit. Aber um sich als Opfer zu fühlen, musste man an die Möglichkeit eines anderen, eines besseren Lebens glauben. Andreas glaubte an nichts als an den Zufall. Er liebte die seltsamen Koinzidenzen und Wiederholungen des Lebens, die jede Erklärung verboten. Er liebte die überraschenden Muster, die entstanden am Himmel oder auf einer Wasseroberfläche oder im Schattenwurf eines Baums, die dauernden kleinen Veränderungen im immer Gleichen. Nadja nannte es Nihilismus, er selbst nannte es Bescheidenheit.
Nach dem Frühstück rief er Fabienne an. Sie fragte, ob er mit Manuel sprechen wolle, er sei im Keller.
»Hast du ihm gesagt, dass ich bei dir war?«
Es war einen Moment lang still, dann sagte Fabienne, nein, sie habe nicht gewusst, ob es ihm recht wäre.
»Können wir uns sehen?«
»Manuel und Dominik basteln einen Heißluftballon. Ich weiß nicht, ob sie heute noch rausgehen. Wenn der Wind nachlässt, vielleicht.«
»Kannst du weg?«
»Ich muss spätestens am Mittag wieder hier sein.«
Sie überlegte. Dann sagte sie, sie könnten sich beim Wohnwagen treffen. Ob er sich an den Weg erinnere? Sie sagte, sie werde beim Parkplatz auf ihn warten, in einer halben Stunde.
Als Andreas den schmalen Kiesweg hinunterfuhr,
sah er schon Fabiennes weißen Kombi auf dem sonst leeren Parkplatz stehen. Er war etwas zu spät, er war seit zwanzig Jahren nicht hier gewesen und hatte eine falsche Abzweigung erwischt und sich verfahren. Er parkte neben Fabienne, und einen Moment lang schauten sie sich an, als hielten sie nur zufällig nebeneinander an einer Ampel oder im Parkhaus eines Einkaufszentrums. Andreas stieg aus und ging um den Wagen herum. Er hörte leise Musik. Fabienne beugte sich vor, und die Musik verstummte. Sie stieg aus und küsste ihn auf die Wangen. Sie trug Jeans und eine gelbe Regenjacke.
»Du rechnest mit allem«, sagte er. Er sagte, er habe die Badehose mitgenommen.
»Am Nachmittag soll es wieder regnen«, sagte Fabienne.
Obwohl sie es ihm schon am Telefon gesagt hatte, fragte er noch einmal, wie lange sie bleiben könne. Sie sagte, um halb zwölf müsse sie spätestens los. Sie fragte, was er die letzten Tage gemacht habe. Sie schloss das Tor auf, und, als sie drinnen waren, wieder zu. Wenn sie einmal nicht abschließen würden, sagte sie, dann trieben sich sofort Leute hier herum, machten Feuer und ließen ihren Müll liegen.
Sie standen auf einer großen Wiese mit alten Bäumen. Links und rechts war das Grundstück durch verwilderte Hecken abgegrenzt, gegen den See hin durch einen breiten Schilfgürtel. Ein Holzsteg führte durch das Schilf zum offenen Wasser.
Sie schlenderten über die Wiese, als hätten sie kein Ziel und wollten sich nur die Füße vertreten. Fabienne
las ein paar Spielsachen auf, die im Gras lagen, und räumte sie in den Wohnwagen.
»Meinst du, die Saison ist schon vorbei?«, fragte Andreas.
»Wir sind auch im Herbst oft hier«, sagte Fabienne. »Sogar im Winter. Wir haben ein kleines Ruderboot. Manuel und Dominik gehen fischen.«
Die Sonne schien zwischen den Wolken hindurch, und alles glänzte in ihrem Licht. In den Bäumen und im Schilf hing fast durchsichtiger Dunst. Andreas und Fabienne gingen über den Steg durch das Schilf. Am
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