An Paris hat niemand gedacht
Dass aber die Spinnen am Pfeffer erstickt sind, das glauben wir nicht.
Paul küsste ihr Handgelenk, als er sie auszog, strich mit dem Finger die Linien nach, die sich jetzt im Sommer deutlicher abzeichnen, legte ihren verbundenen Arm auf ein kleines Seidenkissen.
»Manchmal würde ich gerne wissen, welche von deinen Geschichten etwas von dir erzählt«, flüsterte er.
Sie tat so, als wäre sie schon eingeschlafen. Hätte sie ihm berichten sollen, wie ein zwölfjähriges Mädchen, das frühreif zu viele tragische Bücher gelesen hat, versucht sich mit der rostigen Kante einer abgebrochenen Blechkehrschaufel die Pulsadern aufzuschaben? Außer einem versauten Kleid und wochenlang entzündeten Wunden hatte das weiter keine Folgen. Greta bekam Lügen aufgetischt: Sturz mit dem Fahrrad, missglückter Sprung über das Gartentor, irgend so etwas. Sie war an die Verletzungen der Tochter gewöhnt, verhängte Kletterverbot, fragte nicht weiter. Ich war schon damals zu feige, um eine Selbstmörderin zu sein, denkt Marta, vielleicht habe ich Narben gesammelt, um von einem Seeräuber für seinesgleichen gehalten zu werden. Jedenfalls nicht, um sie von der Mutter näher betrachten zu lassen. Sophia hatte sich ihre Handgelenke damals länger angesehen, versorgte Marta mit Pflaster und Wundcreme und schüttelte über ihre ausweichende Antwort den Kopf. »Du spinnst ja total!«
Wo ist der Zettel mit Sophias Telefonnummer? Ihr fehlt ganz sicher keine große Schwester, aber sie wüsste gerne, was sie macht. Einfach so. Ich habe sie geliebt, das ist so lange her. Ob Sophia noch weiß, wie sie Marta die Apfelsine auf die Nase geworfen
hatte? Auch da lief es warm aus ihr heraus, und sie genoss das bestürzte Gesicht ihrer Schwester. Nur kurz gezuckt hatte sie, den Kopf nicht weggedreht und die Augen in ihr Gegenüber gebohrt. Sophia sollte Angst haben, und Marta fuhr sich immer wieder mit der Zunge über die Oberlippe, obwohl der Geschmack widerlich war. Diesmal hatte Sophia sie nicht zum Weinen gebracht, und Sophia war es, die als Erste den Blick abwenden musste.
Das war zu der Zeit, als sie längst nicht mehr für sie beide gesungen hat.
Warum musste immer Marta singen, während Sophia nur zugehört hat? Mochte sie ihre Stimme? Paul sagt, er hört sie gerne singen, und hat schon mehrmals vorgeschlagen, einen Chor in der Stadt zu suchen, der froh ist über einen klaren hohen Sopran. Marta wollte nicht. Was Paul nicht weiß: ihre Singstimme verschwand eines Tages ohne Vorwarnung und blieb lange weg. Mehrere Jahre war ein heiseres Krächzen alles, was aus ihr herausgekommen war, sobald sie eine Melodie versuchte. Eines Morgens, an einem ihrer ersten Tage in Berlin, als Marta unter der Dusche stand, war sie plötzlich wieder da. Ein blödes sentimentales Lied unter der Dusche, und sie konnte wieder singen. Irgendeine Verkrampfung im Kehlkopfbereich, vielleicht eine Blockade in der Halswirbelsäule, dachte sie, jede Logopädin wüsste sicher eine plausible Erklärung.
Sophia und Marta hatten tagsüber nie viel miteinander gesprochen. Nicht einmal während der Jahre in Afrika. Einige der Nachbarn meinten damals: »Die kleinen Wördehoffs mögen einander wohl nicht besonders. So etwas kommt vor bei Geschwistern mit geringem Altersunterschied.« Erstaunlich, dass sich keiner wunderte, warum Sophia sich nie beschwerte, mit ihr, die sie offenkundig
mit Nichtbeachtung strafte, in einem Zimmer schlafen zu müssen. Genügend Räume wären da gewesen, in der strahlend weiß gestrichenen Zweihundertvierzig-Quadratmeter-Villa im Süden von Bouaké, auf die Richard so stolz war. Sophia wollte kein eigenes Zimmer.
Die Abendlieder blieben ihr Geheimnis.
Sie möchte Sophia fragen, ob sie an all das noch denkt. Ob sie sich erinnert, dass Marta singend einen Löwen erlegt hat, damit er ihrer Schwester nichts antun konnte, dass sie gemeinsam auf fahrende Autos gesprungen sind, um sich in Sicherheit zu bringen, dass sie zusammen stärker waren als alle anderen. Wie schön ihr Haus aus Lügen und Geschichten war!
Wer hat wen zuerst verlassen?
Später sang Marta alleine weiter. Immer leiser, flüsternd, dann lautlos, weil die Gefahr und die Angst größer wurden. Der Kopf drehte sich, als wiege er sich selbst in den Schlaf: hin und her, hin und her. Das Geräusch des Kopfkissens, ein auf- und abschwellendes, wie mit Watte gedämpftes Knistern, das Flüche überlagern konnte, formte sich zum Rhythmus der Lieder, die Sophia nun nicht mehr zu hören
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