An Paris hat niemand gedacht
keine Fragen. Die Adresse von Heiko, Mike und den anderen gab er ihr, als sein Vermieter Ärger machte, wegen der »Person«, die unerlaubterweise sein Zimmer teilte. Die Einzige, die ihre neue Adresse in der Johannisstraße kannte, war Sophia. Bis Richard dort auftauchte.
Immerhin: so kam sie zu Raphaela. Es war leicht, bei ihr zu bleiben, einen Ort für sich zu finden zwischen Büchern, Katzen und überall herumliegenden Manuskriptseiten. Raphaela kannte die ganze Geschichte. Fast.
Raphaela gibt es nicht mehr.
Martas Name in der Widmung ihres letzten Buches, das noch
immer ungelesen auf dem Nachttisch einstaubte: Raphaela hätte sie fragen müssen, ob sie in ihrem Zusammenhang das Wort »Tochter« benutzen durfte.
Ein vorbeiratterndes Müllauto lässt sie aufschrecken. Polternd ziehen die Männer grüne und gelbe Tonnen aus den Hofeingängen. Im Auto ist es kalt geworden.
»Jetzt«, sagt Marta, »jetzt sollten wir wirklich nach Hause gehen.«
Paul nickt, schwingt seine langen Beine aus der Tür und schlägt sie hinter sich zu.
»Wir stehen im Halteverbot.«
»Egal.«
Marta hakt sich auf dem Weg zur Wohnung bei ihm ein, zwingt ein Lächeln in ihr verheultes Gesicht.
»Es tut mir leid, Paul. Alles.«
Seine Finger streichen eine Linie ihren Wagenknochen entlang, malen Spuren auf ihrer Haut. Schwarz verlaufene Farbe klebt an seinen Fingerkuppen, die er Marta lächelnd vor die Nase hält.
»Gibt es so was nicht ›waterproof‹ – fürs nächste Mal?«
»Schau mich bloß nicht an!«
Er zieht ihr Gesicht an seines, küsst Schminke, Tränen und Schleim.
»Lass uns zusammen wegfahren.«
»Ja.«
»Ich habe mir neulich bei Valentin einen Bildband über bretonische Dörfer angesehen: kleine Natursteinhäuser mit aufwendig gestalteten Vorgärten, in denen der Westwind die Blüten von den Stängeln pflückt. Dazu Fischerboote, Klosterruinen, Steinskulpturen am Wegrand, Meer, Felsen und nichts als ein waagerechter Strich am Horizont. Was meinst du?«
Als Paul sie sanft auf dem Bett ablegt und langsam ihre Bluse aufknöpft, erzählt das Gelb über ihnen längst vergessen geglaubte Geschichten.
Sieht man den Regenbogen, dann ist es die große Woi-Schlange.
Sie hängt im Himmelwald vom Baum herunter,
dreht den Kopf mit dem Riesenmaul von einer Seite zur anderen und spuckt buntes Feuer.
Weh dem, der am Feuerpunkt ausruhen will!
Die Kinder lässt die Woi-Schlange laufen,
sie verstecken sich im Haus, bevor die Hitze aufschlägt.
Wer aber die Kinder zum Weinen gebracht hat,
dem frisst der Aussatz die Hände und Füße ab,
die Spechte hacken ihm die Augen aus,
der Leopard verspeist sein Herz,
und die Spinnen färben ihm die letzten Träume schwarz.
Sie erreichen Plouha am späten Nachmittag. Die Wirtin zeigt sich erfreut über die deutschen Gäste aus Berlin und bleibt beim Anblick von Yannis gelassen. Er sei auch willkommen, kein Problem. Ihr Mann, erzählt sie, habe Jagdhunde gezüchtet, schöne Tiere. Aber leider habe sie sie weggeben müssen, nach seinem Tod. Zu viel Arbeit sei das gewesen, und dann hätte sie auch Platz für Pensionszimmer gebraucht und Zeit für die Gäste. Marta grinst Paul an, der mit offenem Mund dem nicht endenden Redefluss hilflos gegenübersteht. Madame Tourbant scheint das nicht zu stören, sie spricht munter weiter, stets Paul zugewandt, öffnet schließlich mit Schwung die Tür zum Gartenhaus. »Voilà!« Die Ansammlung verschiedenster Blumenmuster auf kleinstem Raum dürfte rekordverdächtig sein, selbst das Bad glänzt floral mit Rosendekor und Klatschmohnblüten, die Vorhänge
werden von breiten rosa Schleifen zusammengehalten, an deren Enden kleine Plastikröschen baumeln.
»Wir werden in einer Pralinenschachtel wohnen«, murmelt Paul vor sich hin.
»Comment?«
»Ich … Je ne parle pas français … excuse me … she parle … äh … s’il vous plaît.«
Er deutet auf Marta, die sich vor Lachen kaum halten kann.
»Oh!« Warum er das nicht gleich gesagt habe. Dann werde sie sich mit der Ehefrau verständigen, »votre épouse«, sagt sie und nickt Marta freundlich zu. Für ihn werde sie Hände und Füße gebrauchen, das dürfte auch funktionieren, sie werden sich schon verstehen, »n’est-ce pas, Monsieur Paul?« Sie spricht es wie »Pol« aus, und Marta denkt, das ist gar nicht mal so falsch, während sie einen Teil von Madames Worten unverstanden an sich vorbeirauschen lässt. Frühstück gebe es im Haupthaus, ob neun Uhr zu früh sei? Einen schönen
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