An Paris hat niemand gedacht
denkt Marta, genug Zeit für den viel beschriebenen Schnelldurchlauf mit markanten Bildern aus dem bald hinter sich gebrachten Leben. Lieber nicht, fürs Erste habe ich genug Erinnerungen hervorgekramt.
Paul überlegt, ob die Zöllner nachts zu zweit auf Patrouille gingen oder zu mehreren. Wenn sie anlandende Schmuggler abfangen wollten, hatten sie wohl eher keine Laternen bei sich, man hätte sie von weitem sehen und ihnen ausweichen können. Wie gut muss man den engen, gewundenen Weg kennen, um sich in mondlosen Nächten nicht bei den Fischen wiederzufinden? Marta kramt das schwarze Notizbuch aus dem Rucksack und schreibt: Das Geräusch des Meeres in der Nacht?
Yannis setzt zwei Möwen nach, die sich dicht über ihnen eine Verfolgungsjagd liefern, und lässt sich schnaufend neben ihr ins Gras fallen, nachdem die Vögel über dem Klippenrand abgedreht sind.
»Kommt die Flut, oder geht sie?«
»Keine Ahnung.«
Sitzen bleiben, den Gezeiten zusehen, keine Erklärungen mehr für nichts finden, weil man aufgehört hat, nach ihnen zu suchen. Eine Vorstellung, ebenso verführerisch wie beängstigend.
Ein festes bretonisches Bauernhaus müsste man hier oben haben, mit Schornsteinen, die an den Giebeln über das Dach ragen und jedem Sturm standhalten. Man könnte sich in Sicherheit
wähnen, wenn die ganze Nacht wilde Klänge von Wasser und Wind durchs Fenster geistern. Man hätte einen Ort zum Schweigen und Nachdenken, zu dem man zurückkehren könnte nach langer Reise, so oft man will.
»Paul! Seit wann wünsche ich mir ein Haus? Ich bin Nomadin und Stadtmensch!«, ruft Marta, doch Paul, der einige Meter von ihr entfernt auf dem Bauch liegt und einem Seevogel mit der Kamera auflauert, zuckt nicht einmal mit den Schultern. Vielleicht hat er sie nicht gehört. Marta weiß, dass er von einem großen alten Bauernhaus träumt mit langem Holztisch im Wohnzimmer, an dem zwölf Leute sitzen können, einem Garten, in dem neben drei weiteren Hunden noch Esel und Ziegen Platz fänden, einer Terrasse aus Natursteinplatten, eingerahmt von Blumenkübeln mit Lavendel und Kapuzinerkresse. Nur einmal hatte er versucht, Marta dafür zu begeistern. »Ich werde niemals mitmachen, wenn du dir ein Haus restaurierst«, hatte sie ihm entgegnet, »was für ein Alptraum!«, und Paul war enttäuscht verstummt. Würde er heute damit ankommen, denkt sie, die Sache sähe vielleicht anders aus. Nachdem sie Paul vom Liederhaus erzählt hat, das sie allabendlich für Sophia und sich gebaut hatte, und er auch diesen Teil ihres gestrigen Monologs weder kommentiert noch analysiert hatte, war der Gedanke, mit ihm etwas Reales aufzubauen, vielleicht sogar etwas, das Dauer haben könnte, nicht mehr ganz so gefährlich.
Raphaela hatte ihr einmal zu erläutern versucht, dass es gute und schlechte Häuser gebe. Man benötige ein feines Gespür, um ein gutes zu finden, meinte sie, und dann müsse man es warmwohnen, wenigstens eine Zeit lang. Welche Kriterien anzulegen waren, um die schlechten Häuser herauszufiltern, die, in die man besser gar nicht erst den Fuß setzen sollte, konnte sie nicht genau sagen. Wie viele ihrer Theorien war auch diese leicht verworren,
aber dass das von Raphaela ein gutes Haus war, da ist sich Marta nahezu sicher.
Die feuchtkalte Hundeschnauze schiebt sich unter Martas Hand, im Rucksack klingelt das Telefon. »Ein Anruf in Abwesenheit«, erscheint auf dem Display, als Marta das Gerät endlich hervorgekramt hat. Kati ist die Letzte, mit der sie jetzt sprechen möchte. Sie wird sich schon irgendwann wieder melden, und wenn nicht, ist es auch recht.
Pauls Schatten fällt auf ihre Beine. »Was Wichtiges?«
»Keine Ahnung; ich rufe sowieso nicht zurück.«
»Wer war das denn?«
»Niemand.«
Marta erhebt sich, klopft Staub und Grashalme von ihrer Jeans und steigt den schmalen Pfad weiter entlang, Pauls Schritte dicht hinter ihr.
Am frühen Abend erreichen sie das Restaurant an der Promenade, bestellen Cidre zu Gallettes und machen sich heißhungrig über das Essen her, sobald die Teller vor ihnen stehen.
»Gut, dass wir hergekommen sind!«
»Finde ich auch.«
Paul blättert im Reiseführer. »Paimpol, das sollten wir uns morgen ansehen. Da gibt es ein Meer-Museum: Navigationsinstrumente, allerlei nautischen Kram und alte Geschichten von Fischern, die monatelang auf Fahrt gingen. Das ist doch was für dich, oder? Im Hafen und in der Klosterruine würde ich gerne Fotos machen: ein bisschen Düsternis mit Charme.«
»Na ja
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