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An Paris hat niemand gedacht

An Paris hat niemand gedacht

Titel: An Paris hat niemand gedacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Peters
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Fahrbahn eilt und die Frau sanft von der Straße führt, ohne sich nach den Autos umzusehen, die nun wieder Fahrt aufnehmen.
    Raphaela, denkt Marta, hatte weniger Glück. Sie fiel direkt unter diesen Kleinlaster und starb auf dem Weg ins Krankenhaus, keine zwei Wochen, nachdem Marta ausgezogen war. Als einer ihrer Verwandten endlich auf die Idee kam, Marta zu verständigen, war Raphaela bereits beerdigt. Eine kleine Notiz unter der Rubrik »Vermischtes« im Kulturteil einer Tagesszeitung würdigte sie mit wenigen Sätzen als feine Erzählerin mit Sinn für die nonverbale Poesie, die zwischen den Zeilen aufleuchtet. Raphaela hätte sich über diesen Satz schlapp gelacht.
    Es hätte noch so viel zu bereden gegeben.
    Raphaela hatte verstanden: dass es einen Punkt gegeben hatte, an dem es genug gewesen war. Endgültig.

    Ihr letzter Tag im Hause Wördehoff begann kurz nach Mitternacht. Marta hatte Durst, schlich sich die Treppe herunter. Als sie das Licht in der Küche anmachte, sah sie ihn da sitzen, beide Arme um den Schädel geschlungen wie jemand, der Angst hat, erschlagen zu werden. Sein Kopf hob sich langsam, drehte sich zu ihr um, rot glänzende Augen fixierten einen Punkt hinter ihrer rechten Schulter. Oberhalb seiner Nasenwurzel hatte sich die Tischkante eingekerbt, als hätte dort vor langer Zeit einmal ein Beil gesteckt. Er öffnete den Mund, schloss ihn, ließ den Kopf wie in Zeitlupe wieder sinken.
    »Betrunken bist du. Ein Säufer.«
    Er stand nicht ruckartig auf, kein Schlag warf sie gegen
die Kühlschranktür, kein Brüllen riss die Nachbarn aus dem Schlaf.
    »Ja«, sagte er heiser, »genau das.«
    Sie drehte sich um und ging. Keine Flasche, kein Aschenbecher, nichts wurde ihr nachgeworfen. Sie hatte Richard weinen sehen, das gerippte Unterhemd hing ihm aus der Hose, er stank nach Schnaps und Schweiß. Sie hatte ihn einen Säufer genannt, und er hatte sie nicht dafür geschlagen. Nicht in dieser Nacht.
    Am nächsten Morgen saß er nicht am Frühstückstisch, als Marta erschien. Auch Sophia fehlte. Greta war mit dem Versuch beschäftigt, Kati zum Essen zu bewegen, die trotzig auf ihren Teller starrte. Greta blickte kurz auf, nickte der Tochter zu, das Gesicht grau und ausdruckslos. Marta nahm sich Brot und Marmelade, blieb stumm. Im oberen Stockwerk wurde die Klospülung betätigt, Gretas und Martas Blicke trafen sich für einen Moment, wichen einander sofort wieder aus. Kati begann zu plärren, sie wolle Erdbeer statt Aprikose, und Greta begann erneut auf sie einzureden, die Stimme belegt von Rauch und Schlafmangel. Die Trostlosigkeit breitet sich weiter aus, wir basteln an unserer Hölle, dachte Marta und warf ihr angebissenes Marmeladenbrot in den Mülleimer.
    Beim Verlassen des Hauses stellte sie fest, dass sie vergessen hatte, das Buch einzustecken, das sie gerade heimlich während des Unterrichts las. Simone de Beauvoir, »Memoiren einer Tochter aus guten Hause«. Sophia hatte Marta tags zuvor ausgelacht, als ihr Blick auf den Titel gefallen war.
    Ein Filzvorhang, nach dem letzten Winter achtlos hängen gelassen, trennte den Flur vom Eingangsbereich, man konnte nicht sehen, dass sich jemand dahinter befand. Sie traf auf einen Widerstand, erkannte zu spät, was es war, schaffte es nicht mehr, dem Schlag auszuweichen. Greta trat hinzu, rührte sich nicht. Marta
wartete, dass er noch einmal ausholte, aber Richard ließ den erhobenen Arm sinken, sagte: »Du wirst von jetzt an jede Nacht neben unserem Schlafzimmer bei Katharina schlafen. Sie fürchtet sich im Dunkeln und weint, wenn sie alleine ist. Dich wird es davon abhalten, zur Unzeit im Haus herumzuschleichen.«
    »Ich will das nicht!«
    »Du tust, was man dir sagt!«
    Sie hatte keinen blauen Fleck an diesem Tag, wurde nicht unter Hausarrest gestellt, nicht einmal angeschrien. Sie drehte sich um, ging aus dem Flur, verließ das Haus, das Dorf, die Familie.
    Es war einer der letzten Sommertage, und sie genoss es, stundenlang durch den Wald zu laufen, fort zu sein, endlich!
    Die Angst kam später wieder, am Abend, als sie von einer Schulfreundin aus anrief. »Ich komme nicht mehr nach Hause. Wo ich bin, sage ich nicht.« Marta hatte aufgelegt, bevor Greta den Hörer weiterreichen konnte.
    Tinas Eltern wurden Dienstag zurückerwartet, so lange konnte sie bleiben. Danach fand sie einen Schlafplatz auf einer Matratze bei Janas Bruder Christian. Er war freundlich, kochte gelegentlich für sie, erlaubte ihr, seine Kunstbücher durchzublättern, und stellte

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