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An Paris hat niemand gedacht

An Paris hat niemand gedacht

Titel: An Paris hat niemand gedacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Peters
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hatte, tropfte ihm der Schweiß von der Stirn.

    Jetzt liegt er in einer Kiste aus Eichenholz oder noch im Kühlhaus auf der Eisenbahre mit einem Zettel um den großen Zeh, und seine Leiche wartet darauf, dass der Bestattungsunternehmer mit dem großen Sack aus Kunststoff kommt. Der wird sich noch einmal vergewissern, bevor er den Reißverschluss über dem erkalteten Körper schließt. Nummer 4782, damit Verwechslungen ausgeschlossen sind. Sein verzerrtes Gesicht verschwindet hinter starker, reißfester Plastikplane.
    Richard.
    Sein wütendes Gebrüll ins offene Autofenster: »Glaubt bloß nicht, dass ihr mir entkommen könnt!«
    Wieso hatte er »ihr« geschrien, und warum hatte sie all die Jahre vergessen, darüber nachzudenken?
    Von weit her dringt Pauls Stimme zu ihr durch.
    »Marta, was ist? Sagst du mal was?«
    »Mein Vater ist gestorben.«
    Paul tritt neben sie, seine Hand nähert sich ihrem Gesicht. Marta greift sie, bevor er ihre Wange erreicht hat, drückt die Finger sanft an seinen Mund.
    »Lass uns gehen, einfach gehen und sonst nichts.«

    Eine Wolke hat sich vor den Mond geschoben. Das, was Marta für einen hühnereigroßen Stein gehalten hat, bewegt sich plötzlich und verschwindet raschelnd im Gebüsch, als ihr Fuß zehn Zentimeter davor aufsetzt. Die Hand im gesträubten Fell des Hundes, der witternd nach vorne drängt, folgt sie dem steinigen Pfad. Als Yannis aufbellt, tadelt sie ihn streng, fragt sich gleichzeitig, warum. Kein Mensch außer ihnen wird hier im Dunkeln
herumstolpern. Das letzte Stück ist abschüssig, läuft nach einer weiteren Kurve im Sand aus. Nach knapp einer Stunde Fußmarsch haben sie die Bucht erreicht.
    Stille, erfüllt vom Rauschen, das von allen Seiten heranwallt, schwarze Masse, die sich ins Ohr saugt, im Kopf ausbreitet, bis der Innendruck zu schmerzen beginnt. Der Grund gibt nach.
    Mit einem Satz macht sich der Hund los, wird von der Nacht verschluckt und landet dem Platschen nach direkt im Wasser. Paul legt seinen Arm um Martas Hüfte, zieht sie mit sich auf den weichen Sandboden.
    Ein Mann ist gestorben; sie muss nichts tun.
    »Woran denkst du?«
    »Er war zum Kotzen.«
    Der Drang, die Stimme gegen diesen wabernd schwarzen Sog vor ihnen zu erheben, ein Lied anzustimmen und auf ein Echo zu hoffen oder sich wenigstens in Sicherheit zu reden, sofern es eine solche gibt.
    »Du kannst dir nicht vorstellen, wie viele Bücher der Mann hatte, eine ganze Bibliothek, englisch, französisch, deutsch, darunter alte, schön gebundene Erstausgaben. Alles auf den Dachboden geräumt; ich habe ihn nie etwas anderes als den Rheinischen Merkur lesen sehen. Kaum zu glauben, aber er muss in einer früheren Phase seines Lebens ein Bücherfreund gewesen sein.«
    »Die wenigsten Leute kommen als Kotzbrocken auf die Welt.«
    »Man konnte sich raufschleichen und eines von den Büchern aus den verstaubten Regalen mit sich nehmen. Hat kein Mensch gemerkt. Musste man nur gut verstecken.«
    »Was sprach denn gegen Lesen?«
    »Lieber Himmel, Edgar Allen Poe mit dreizehn; kein Wunder, dass ich verrückt geworden bin.«

    »Verstehe.«
    »Greta hat manchmal beim Aufräumen einige der Bücher gefunden und sie dann stillschweigend wieder eingestellt. Es kann nur sie gewesen sein. Richard hätte mir jeden einzelnen Band um die Ohren geschlagen.«
    »Zum Kotzen.«
    »Sag ich ja.«
    Angst, dieses Tier, das seine Krallen ins Fleisch gräbt. Eine Giftmischung, die ins Blut dringt, die Bewegungen verlangsamt, das Hirn verklebt. Die Lähmung, sobald Richard seine Stimme hebt. Er ist tot.
    Nie wieder auch nur daran denken, diesen Mann sehen zu müssen. Wenn es an der Haustür klingelt, wird es nicht mehr die Möglichkeit geben, dass er es sein könnte. Er war jetzt fertiggemacht worden, nicht Marta. Ein toter alter Mann kann niemandem mehr etwas tun. Sie müsste erleichtert sein.
    Katis Stimme auf der Mailbox klang gefasst. Letztendlich sei er qualvoll erstickt, die Ärzte hätten nichts mehr für ihn tun können. Sie habe ihn vor vier Tagen noch besucht, da habe er geweint.
    Für wann die Bestattung angesetzt werde, wisse sie noch nicht, Marta solle sich bei ihr melden deswegen. Immerhin sei er auch ihr Vater gewesen. Und solch ein Ende habe niemand verdient.

    Marta erinnert sich an einen Spaziergang am Strand von Assinie, sie reichte ihrem Vater gerade bis zur Hüfte. Richard hatte ihr sein Stofftaschentuch gegeben, als ihre Nase lief, ein großes cremefarbenes, in das seine Initialen eingestickt waren: RW.

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