An Paris hat niemand gedacht
einen Nerv getroffen: »Kosmopolitische Mode, Stilbewusstsein und Klarheit, verknüpft mit unkonventionellem Denken: eine Kollektion, die der in Leben und Beruf erfolgreichen Frau alle Möglichkeiten eröffnet.«
Greta war es gleich, in welch pathetische Worte die Festredner es packten; was sie interessierte, war der Erfolg, der nicht zuletzt auf ihr Engagement zurückging, und die Tatsache, dass Calva gewillt war, weitere Läden zu planen, die unter ihrer Regie aufgebaut werden sollten. Im Laufe von sieben Jahren eröffneten sie acht weitere Shops, und Greta hatte kaum Zeit, die große Altbauwohnung in bester Lage, an die sie über einen mit Calva bekannten Immobilienmakler gekommen war, fertig einzurichten. Wie im Rausch ging die Zeit dahin zwischen Flughäfen, Hotels, Showrooms, Modemessen, Personalgesprächen, Planungssitzungen, Events, wieder Flughäfen, wieder Hotels, immer so weiter.
Nachdem Calva seinen ersten Herzinfarkt hatte, zog er sich mehr und mehr aus dem täglichen Geschäft zurück und überließ es fortan Greta, ihn regelmäßig über den Stand der Dinge zu informieren.
Die nicht eingereichten Urlaubstage belaufen sich auf über hundert, sie hat aufgehört, darüber Buch zu führen. Daran, ihre wöchentlichen Arbeitsstunden zu zählen, hat Greta nie gedacht. Ihr ist es gut damit ergangen, sich völlig von einem Job vereinnahmen
zu lassen, der auf sie und ihre Fähigkeiten maßgeschneidert ist, der Talente zum Vorschein gebracht hat, von denen sie die ersten vierzig Jahre ihres Lebens nicht einmal geahnt hatte, dass sie über sie verfügt. Noch immer geht sie so gut wie jeden Morgen dankbar aus dem Haus. Der Gedanke, »Zeit für mich selber« einzufordern, wie manche Kollegen es gelegentlich taten, stets mit dem gleichen seufzend-bedauernden Tonfall, war ihr bislang fremd. Was sollte das überhaupt heißen? Ihre Arbeit tun zu dürfen empfindet sie als Privileg, von dem Dispens zu erbitten ihr beinahe ungehörig vorkommt.
Ich bin mein Job. Merkwürdig, dass dieser Satz, der bis letzte Woche noch leicht über ihre Lippen ging, heute einen fremden Beigeschmack hat. Ein Baustein hat sich auf unerklärliche Weise verschoben, um eine Nuance bloß, aber man wird eventuell die Statik des gesamten Gebäudes neu berechnen müssen.
Da ist ein Foto, auf das Marta keinen Blick werfen wollte, der kastanienbraune Haarschopf, dem sie heute Morgen unreflektiert gefolgt ist, alte Szenen und Bilder, die aus längst vergessen geglaubten Winkeln hervorgekrochen kommen, Mütter, Töchter, vier Frauen, die ein Gespräch aufnehmen sollten, das sie vor langer Zeit versäumt haben.
Ich brauche keine Zeit für mich selbst, aber vielleicht gibt es Wichtigeres zu tun als dies hier.
Greta fasst sich an die Stirn, versucht den Schwindel aufzuhalten, der in ihre Schläfen vordringen will.
»Könnte ich bitte ausnahmsweise in Ihrem Wagen …« Hektisches Hupen in verschiedenen Tonlagen verschluckt das Ende des Satzes.
Ich bin müde.
Vielleicht sollte sie Calva vorschlagen, dass sie eine weitere Kraft einarbeitet, jemand Jüngeren, der sukzessive einen Teil ihrer
Aufgaben übernehmen könnte, bevor ihr doch einmal die Kräfte schwinden. Aus ihrer Stelle lassen sich ohnehin zwei machen, das hat selbst Seebacher junior neulich zugegeben. Die Pläne für einen weiteren Shop liegen bereits auf ihrem Schreibtisch, der Konzern scheint zu glauben, dass Gretas Tag über doppelt so viele Stunden verfügt wie der anderer Arbeitnehmer. Immerhin, denkt Greta, werde ich bald neunundfünfzig. Wer weiß, wie viel Zeit mir noch bleibt. Ein Job ersetzt keine Menschen, ein Mensch ist kein Job.
»Stau!«
Der Fahrer lässt mit einem Klatschen die Handflächen auf seine Oberschenkel fallen.
»Tut mir leid, Frau Wördehoff, aber um diese Uhrzeit …«
»Ist nicht so schlimm, Herr Langer, meine Mitarbeiter kommen dann eben mal ohne mich zurecht.«
Langer lächelt erfreut in den Rückspiegel, lässt die Fensterscheiben herunterfahren und reicht Greta eine Packung Gauloises nach hinten. Sie rauchen schweigend, während die Limousine sich im Schritttempo über die Stadtautobahn schiebt.
Mit mehr als einer Stunde Verspätung betritt Greta den Calva-Shop im überfüllten Terminal 1 und fragt den nicht wenig erstaunten Betriebsleiter, warum er nicht bereits mit der Besprechung angefangen habe.
»Nun, ich dachte, ohne Sie …«
»Wir sollten einmal gemeinsam mit der Konzernleitung überlegen, Herr Fischer, wie wir den einzelnen Shopleitern vor
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