An Paris hat niemand gedacht
Ort mehr Entscheidungsbefugnis einräumen können. Schließlich kann ich nicht überall gleichzeitig sein, und ab und zu bin auch ich entbehrlich.«
Der hochgewachsene Mann, den Greta vor etwa vier Jahren
bei der Konkurrenz abgeworben hat, widerspricht höflich, zeigt sich aber doch angetan. »Es wäre eine Überlegung wert, schon allein zu Ihrer Entlastung.«
»Na ja, noch bin ich ja ganz gut beisammen.«
»So war das doch nicht gemeint, Frau Wördehoff!«
»Schon gut, Herr Fischer, war ein Scherz. Lassen Sie uns einfach unsere Arbeit machen. Was liegt denn bei Ihnen an?«
Nachdem der Shopleiter, wie immer bestens vorbereitet, die einzelnen Themen von seiner Liste abgelesen hat, wirft Greta einen Blick in die Bilanz, notiert sich hier und da etwas und schüttelt den aufkommenden Gedanken ab, dass ihr Gegenüber von seiner Ausbildung her wesentlich qualifizierter wäre als sie. Calva würde ihr jetzt sicher einen seiner Vorträge halten über Qualifikation im Allgemeinen und Begabung im Speziellen, ergriffe die Gelegenheit, ein weiteres Mal die Geschichte seiner Anfänge zum Besten zu geben. Wie er, ein kleiner Schneider, im Atelier seines Vaters die Damen der wohlhabenden Bürger eines Pariser Vororts mit innovativen Schnitten beglückte, um dann mit Cleverness, Fleiß und Kreativität nach und nach eine Nische in der Hauptstadt der Mode zu erobern, die er zu einem Weltkonzern ausbauen konnte. Calva würde Greta verbieten, sich mit jemandem zu vergleichen, der auf dem Papier vielleicht besser ausgebildet war, er würde sagen, was sie zu einer so besonderen Mitarbeiterin mache und dass sich ebendies in keiner Schulung vermitteln ließe.
»Frau Wördehoff?«
»Ich höre, Herr Fischer. Sie haben Probleme mit dem Warenwirtschaftssystem. Was kann ich da für sie tun?«
Als Greta gegen zweiundzwanzig Uhr erschöpft die Hotellobby durchquert, grüßt der Nachtportier über den Rand seines Bildschirms,
ohne zu ihr hinzusehen. Auf dem Weg zum Aufzug erkennt sie weiter hinten an der Bar den rauchumwölkten Rücken des Vertreters, zögert kurz und drückt auf den Knopf für den vierten Stock. Im Zimmer angekommen, streift sie die Kleider ab, dreht die Dusche auf, lässt volle zwanzig Minuten Wasser über ihren Körper laufen, bis ihr einfällt, dass sie seit mittags versäumt hat, ihre Mailbox abzuhören. In den weichen Hotelbademantel gehüllt, lässt sie ihren Laptop hochfahren, während Katharinas Stimme an ihr Ohr dringt, die weinerlich fragt, warum sie nicht zurückgerufen werde. Sie sei gestern bei ihrem Vater im Krankenhaus gewesen, es ginge ihm sehr schlecht. »Papa liegt im Sterben«, jammert sie, ob die Mutter nicht endlich ihren Frieden mit ihm machen wolle, er sei wirklich sehr elend und bedaure alles von Herzen. Greta legt auf, bevor Katharina fertig ist, löscht eine weitere Nachricht, ohne sie vorher anzuhören.
Frieden schließen mit Richard, die Kleine muss übergeschnappt sein. Ein Bedauern seinerseits ist so glaubwürdig wie die Ankündigung von Steuerbefreiung für den Einzelhandel. Weder sie noch er brauchen diesen Frieden, zum Leben oder zum Sterben, je nachdem. Im Übrigen: Es ist nicht das erste Mal, dass sie eine Nachricht über den lebensbedrohlichen Zustand ihres Exmannes erreicht, und jedes Mal hat er sich wieder aufgerappelt. Richard ist zäh, so schnell stirbt er nicht. Und wenn schon. Sie hat hart dafür gekämpft, dass sie das nichts mehr angehen muss. Katharina ist seine Tochter, sie mag sich Sorgen machen, aber ein Ende Richards wäre sicher für alle, ihn selbst eingeschlossen, eine Erlösung. Der beruhigende Gedanke, dass er vielleicht nie wieder die Kraft haben wird, sich auf den Weg zu ihr zu machen; sie braucht ihren Wagen bei Nacht nicht mehr im Halteverbot direkt vor der Haustür abzustellen; sorglos kann sie ein paar Minuten durchs Dunkel gehen, wenn sie Lust dazu hat, ohne panisch
auf sich nähernde Schritte zu achten, Gretas Name könnte gefahrlos wieder im Telefonbuch stehen.
»Wie herzlos du bist«, hatte ihr die Jüngste bei einer früheren Gelegenheit vorgeworfen, als es um die Krebserkrankung Richards ging und Greta jegliche Anteilnahme verweigert hatte. »Was ihn angeht, stimmt das«, war Gretas Entgegnung gewesen.
Katharina hatte sich abgewendet und hinter einen Berg vollgeheulter Taschentücher zurückgezogen. Greta war nicht in der Lage gewesen, auch nur versuchsweise mit einem Wort des Trostes herauszurücken, sie hatte keine mitfühlenden Worte für Katharina,
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