An Paris hat niemand gedacht
jedenfalls nicht, was Richard betraf. Nach ihrem Auszug aus dem gemeinsamen Haus war Katharina drei Mal zu ihm zurückgekehrt und hatte jeweils nach einigen Wochen wieder zerknirscht bei Greta vor der Tür gestanden, wenn der Vater im Suff etwas zertrümmert, ihr Männerbesuch untersagt oder den Geldhahn aufgrund irgendeines Fehlverhaltens abgedreht hatte. Die Tochter wurde stets kommentarlos wieder aufgenommen, aber der Geschmack von Verrat ließ sich nicht tilgen.
Soweit Greta weiß, ist auch die Wohnung, die Katharina derzeit bewohnt, ein Geschenk des Vaters. Entweder hat sie sich kaufen lassen, oder … Was? Ihr kann das eigentlich egal sein.
Herzlos. Das mag stimmen, aber es kümmert sie nicht. Gefühlslöcher, die einer eigenen undurchschaubaren Logik folgen, aber helfen bei dem Versuch, nicht verrückt zu werden.
Arme kleine Kati. Sie sieht glückliche Familien in der Werbung und glaubt, es müsste ein Rezept zu finden sein: Für den Pudding ebenso wie für die heile Welt. Man muss nur wollen, es riecht nach warmer Schokolade und »piep, piep, piep, alle ha’m sich lieb…«
Soll er doch verrecken.
»Oh!«
Sie schätzt den fremden nassen Mann, der lächelnd und mit nichts als einem Handtuch bekleidet vor ihr steht, auf etwa Anfang zwanzig. Er sieht gut aus, wenn auch nicht auf klassische Weise schön: groß gewachsen, schmale Hüften, das Kinn etwas zu breit, die Augen ein wenig zu nah beieinander, aber ausdrucksvoll. Angezogen könnte der etwas hermachen, denkt Greta und sagt: »Ist Sophia da?«
»Unter der Dusche.«
»Darf ich hereinkommen?«
Mit einladender Geste tritt der Mann zur Seite und schließt hinter Greta die Tür.
»Kaffee?«
Bevor Greta antworten kann, ist er an ihr vorbeigeschlüpft. Die Abdrücke seiner Füße ziehen eine feuchte Spur zur Küche.
»Hallo Mama!«
Sophia steht, mit einem ausgeleierten T-Shirt bekleidet, in der geöffneten Badezimmertür und rubbelt sich mit einem Handtuch in der gleichen Farbe wie jenes, das ihren Besucher, oder was auch immer er ist, nur notdürftig verhüllt, die blonde Mähne.
»Guten Morgen, störe ich?«
»Wir sind doch verabredet. Nick geht gleich.«
»Nick?«
»Er schreibt gerade bei mir seine Magisterarbeit über die poetologischen Grundaussagen im Briefwechsel Uwe Johnssons.«
»So nennt man das also.«
Das freundliche Lachen hinter Greta klingt eine Oktave tiefer als erwartet. Der angehende Magister, inzwischen mit einem eindeutig feminin anmutenden Bademantel angetan, reicht ihr eine dampfende Tasse. Sophia geht einige Schritte auf Greta zu, haucht ihr einen Kuss an der Wange vorbei.
»Habt ihr euch nicht vorgestellt?« Ihre Stimme klingt ungehalten.
»Bis jetzt noch nicht. Greta Wördehoff, ich bin Sophias Mutter.«
Er ergreift Gretas Hand und schüttelt sie herzlich.
»Angenehm! Ich bin Nick, bis vor einigen Stunden war ich noch nichts als Frau Doktor Wördehoffs Student.«
»Das bist du immer noch!«
Nick scheint sich nichts aus Sophias Zurechtweisung zu machen, sagt, er werde sich mal rasieren, wirft ihr auf der Schwelle zum Bad einen Handkuss zu und dreht pfeifend den Wasserhahn auf.
Sophia schüttelt den Kopf. »Der soll sich bloß nichts einbilden.«
»Wieso, er scheint doch ganz nett zu sein.«
»Ist er auch, leider, und wirklich brillant.«
»Worin?«
Sophias Miene heitert sich auf: »Also wirklich, Mama!«
Greta grinst zurück und hält Sophia die Tüte mit den Brötchen und die Prosecco-Flasche entgegen, die sie auf dem Weg erstanden hat.
»Das ist aber nett! Bring das schon mal in die Küche, ich ziehe mir rasch etwas an.«
Zwei Weingläser stehen auf der Spüle, daneben Pappkistchen mit Resten von japanischem Essen, ein Korken schwimmt in einer Pfütze, die Greta als mit Reiskrümeln durchsetzte Sojasauce definiert, bevor sie sie in den Ausguss schüttet.
»Du musst hier nicht aufräumen!«
»Weiß ich.«
Sophia hat sich ein leichtes Baumwollkleid übergezogen, das Haar mit dem Handtuch zu einem Turban gedreht, der ihr ein
exotisches Aussehen verleiht. Wie schön meine Tochter ist, denkt Greta und beginnt die Teller auf dem Tisch zu verteilen. Sophia nimmt ihr den dritten aus der Hand. »Wir sind zu zweit. Nick verschwindet.«
»Ich wollte wirklich nicht stören.«
»Du störst nicht! Höchstens mit solchen Bemerkungen.«
»Entschuldige.«
»Damit auch.«
Greta seufzt, nimmt den Brotkorb von der Anrichte, schüttet die Brötchen hinein. Sophia legt ihr die Hand auf die Schulter und stellt das
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