An Paris hat niemand gedacht
vor einer Woche zu hoffen gewagt hatte. Sie geht einige Schritte auf Marta zu, bleibt kurz vor ihr stehen und schaut ihre Tochter an.
Wir müssen reden, denkt Greta.
Wir sollten weiter schweigen, denkt Marta.
Sie nicken einander zu, als hätten sie sich eben zufällig getroffen: zwei Frauen, die es sich zur Gewohnheit gemacht haben, einander wortlos beim Bäcker zu grüßen, ohne dass eine den Namen der anderen kennt.
Stumm setzen sie ihren Weg fort, schlendern durch nasse Straßen, auf denen sich das Licht der Laternen zu spiegeln beginnt, lassen fröhlich miteinander lachende Schülergruppen beiseite, ignorieren Handzettelverteiler und Straßenzeitungsverkäuferinnen. Auf der Museumsinsel steht ein Saxophonspieler, dem Greta gerne zugehört hätte, dann verliert sich der Maßstab für Zeit in den unterschiedlichen Rhythmen ihrer Schritte.
Einmal stoßen ihre Ellenbogen aneinander, als sich eine Gruppe junger Männer in Anzügen und Krawatten hastig an ihnen vorbeidrängt. Als Greta später über einen losen Pflasterstein stolpert, greift Marta reflexartig nach ihrem Arm und zieht sofort die Hand zurück, als Greta wieder Halt gefunden hat.
Wie zwei Seifenblasen, denkt Greta und fragt, während Marta noch überlegt, wie diesem nächtlichen Marsch ein Ende gesetzt werden könnte: »Hast du Hunger?«
Beim Betreten des Restaurants schlägt ihnen der Duft von gegrilltem Fleisch entgegen. »Wunderbar!«, seufzt Greta, »ich habe seit heute früh nichts gegessen.«
Sie bestellen reichlich, nehmen zur Kenntnis, dass sie es beide extrascharf mögen, kneten beim Warten synchron die Serviette, bis sie es bemerken und sich verlegen angrinsen.
»Immer noch nervös?«
»Hungrig.«
»Ich auch.«
Die Vorspeisenplatte wird aufgetragen, der türkische Kellner bringt Rotwein und schenkt Greta einen Schluck ein. »Frau Mama wird probieren?« Zwei erstaunt aufmerkende Augenpaare treffen ihn. Er weicht irritiert einen Schritt zurück, schraubt dann ein Lächeln in sein Gesicht und fängt heftig gestikulierend an, sich zu entschuldigen: »Schwester natürlich, sieht man ja, tut mir leid, gnädige Frau ist viel zu jung für so große Tochter, meine Augen waren, wie sagt man? Tomaten? Ja? Aber die Ähnlichkeit habe ich gleich gesehen.«
Nach einem schnellen Blick auf Marta, die amüsiert zu sein scheint, lacht Greta ihn an. »Ist schon gut, macht nichts.«
Nochmals eine Entschuldigung murmelnd entfernt er sich.
Greta hebt ihr Glas. »Worauf trinken wir?«
Martas Mine verfinstert sich augenblicklich.
»Glaub nicht, jetzt findet die große Versöhnungsszene statt!«
Um sie herum wird es plötzlich still. Gespräche verstummen, Köpfe drehen sich ihnen zu, der Mann am Tresen hält im Polieren der Marmorplatte inne. Greta lässt ihr Glas auf die weiße Tischdecke sinken, schließt die Augen, atmet langsam ein und wieder aus.
Nicht anfangen zu heulen. Auf gar keinen Fall!
»Nein«, sagt sie nach einer Weile leise, »kein Versöhnungsgetue,
schon klar. Wir haben uns getroffen, wir essen miteinander, unterhalten uns.«
»Wir können aber nicht einfach so ausblenden, was war.«
»Richtig.«
Marta schaut sie an, studiert dieses Gesicht, in dem die bebenden Nasenflügel die Ruhe der Stimme Lügen strafen, registriert Einzelheiten: die Narbe auf dem Wangenknochen, die trotz Make-up und Rouge deutlich zu erkennen ist, die geschwungenen tiefroten Lippen, die Augen, deren Grau vom üppig aufgetragenen Lidschatten fortgesetzt wird, die schwarz glänzenden Bögen ihres Haaransatzes, eine Braue liegt etwas höher als die andere. Irgendwo hat sie einmal gelesen, dass leichte Asymmetrien ein Gesicht in der Wahrnehmung des Betrachters attraktiver erscheinen lassen als perfekt ausgeformte Gleichmäßigkeit.
Wenn ich jetzt anfange, sie zu mögen, was dann? Das Mutter-Tochter-Programm können wir nicht installieren; unsere Betriebssysteme würden sich als das erweisen, was sie immer schon waren: inkompatibel. Fehlermeldung – kein Datenaustausch möglich.
Marta schüttelt den Kopf. Jetzt imitiert sie schon Pauls Angewohnheit, das Innenleben seines Computers für Erklärungen des menschlichen Zusammenlebens heranzuziehen.
Ich werde langsam irre, eine seltene Art von Wurm ist eingedrungen, hat sich in mein Hirn vorgearbeitet und bringt nun die Windungen durcheinander; bald werde ich die Worte rückwärts und in Spiegelschrift denken; siebzehn Jahre werden einundsiebzig, und wir sind beide schon lange tot.
SOLLTEN WIR IHN NICHT ZUSAMMEN
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