An Paris hat niemand gedacht
gegen ein volles tauschen. Ihr Atem ist deutlich zu hören.
Meine Mutter. Ich habe sie umgebracht, unzählige Male, Abend für Abend. Ausgelöscht, erst in Geschichten, dann endgültig.
»Mit der Endgültigkeit, das ist so eine Sache«, hatte Paul am Strand gesagt.
Bearbeiten – Rückgängig: eine Tastenkombination, die jeder beherrschen sollte. Aber selbst am Rechner ist die Rücknahme eines Befehls unter Umständen nicht ausführbar, und dann bleibt das Dokument verschollen.
Was mache ich hier?
Die Auslöschung eines Vaters hat sich aus dem Bereich der Möglichkeit bewegt, ist eine Tatsache geworden. Alle Menschen sind sterblich, ein Gemeinplatz, den man gerne vergisst, in seine Berechnungen einzubeziehen.
Vielleicht bin ich deshalb gekommen.
Es hat womöglich etwas mit jenem Ende der Auseinandersetzung zu tun, das man Tod nennt, buchstäblich ohne zu wissen, was dahintersteckt. Auch wenn viele hoffen, die Endgültigkeit könnte relativ sein, setzt der Tod einen Schlusspunkt, dem kein weiteres Kapitel, kein Nachwort, hinzugefügt werden kann. Die Frage, ob das gut oder schlecht oder egal ist, bringt niemanden weiter.
Schert man sich zeitlebens nicht um das vierte Gebot, braucht
man sich um die Ausformung nicht vorhandener Trauer dann auch nicht mehr zu kümmern. Was hat das mit Greta zu tun?
Meine Mutter lebt und sitzt neben mir, und ich sollte endlich irgendetwas sagen.
Stapelweise offene Rechnungen, die Waagschale fällt scheppernd nach unten. Schuldig. Eine schöne, eigenartige Frau zittert vor Angst, sieht aus wie eine, die gestraft genug ist. Jemand lügt im Hintergrund: Es gibt keine Schuld. Jetzt nicht die Nerven verlieren. Sie ist diejenige, die Angst hat.
»Greta.«
Und sie sind doch eher grau als blau, ihre Augen, Marta wusste es. Der Rest ist fremd und seltsam vermischt mit Teilen von Vertrautheit, von denen keines zu einem anderen passt. Scherben, deren Verbindungsstücke verloren gegangen sind.
»Marta. Entschuldige, ich bin nervös und weiß nicht, was ich sagen soll. Alles scheint so …«
»Falsch.«
»Nein. Oder doch. Ich meine die Worte …«
»Fehlen.«
»Genau.«
Waagschalen sind Schwachsinn, immer schon gewesen.
»Mir auch.«
Greta seufzt erleichtert, als sei irgendetwas geschafft.
Marta zupft eine Zigarette aus der Schachtel, hält Greta das Päckchen hin: »Auch eine?«
»Danke.«
Sie beugt sich zu der Flamme, füllt ihre Lungen mit einem tiefen Zug, bläst den Rauch aus.
»Und jetzt?«
»Was?«
»Was passiert jetzt?«
»Es ist doch schon was passiert.«
Beinahe hätten sie beide gelächelt.
Marta entzündet eine weitere Zigarette, obwohl die letzte noch im Aschenbecher glüht.
Die Musik wird lauter, »Happy Hour vorbei«, ruft der Barmann, Greta leert ihr Glas in wenigen Zügen.
Eine Gruppe älterer Touristen, mit Stadtführern und Ampelmännchen-T-Shirts versehen, fällt ein und stürzt sich auf die freien Plätze. Ein Witzbold versucht zu berlinern: »Bring mich ma ne’ Linie wejen dem Schietwetter, wa?« Der Kellner verdreht die Augen und knallt einen Satz Speisekarten auf den Tisch. »Sie können bestellen, was auf der Karte steht. Alles andere haben wir nicht.«
Greta beobachtet die Szene und schüttelt den Kopf: »Fragt sich, welcher von beiden der größere Schwachkopf ist.«
Marta greift nach ihrer Tasche, legt einen Geldschein auf den Tresen. »Lass uns gehen. Ein wenig durch die Stadt laufen. Willst du?«
Greta nickt: »Gern.«
Als sie in die Abenddämmerung treten, hat es aufgehört zu regnen. Stumm gehen sie nebeneinander her, weichen Pfützen aus, halten so viel Abstand, dass entgegenkommende Passanten zwischen ihnen hindurchlaufen. An der S-Bahn-Unterführung sitzt ein Punkmädchen und spricht sie an: »Habt ihr etwas Kleingeld?« Greta bleibt stehen, kramt in ihrer Handtasche, lässt einige Münzen in die Hand des Mädchens fallen. »Oh, danke!«
Greta geht in die Hocke und streichelt einen der Welpen, die sich auf der schmutzigen Decke an die Punkerin drängen. Das Mädchen lächelt, als eines der Tiere beginnt, Gretas Hand zu lecken. »Er mag Sie. Möchten Sie ihn mitnehmen? Ich mache Ihnen einen guten Preis.«
Greta lächelt zurück. »Ich bin zu oft unterwegs, um mir ein Tier zu halten. Leider.«
Als sie sich aufrichtet, sieht sie Marta einige Meter weiter vorne gegen eine Mauer gelehnt stehen, die Hände in den Hosentaschen vergraben, den Blick auf ihr ruhend, weder abweisend noch wohlwollend, aber da. Das ist mehr, als Greta noch
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