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An Paris hat niemand gedacht

An Paris hat niemand gedacht

Titel: An Paris hat niemand gedacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Peters
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BEERDIGEN?
    Marta hatte sofort verstanden, wusste dennoch nicht zu sagen, was genau. Als sie vor noch nicht einmal achtundvierzig Stunden und ca. 1500 Kilometer von hier entfernt feststellte, dass sie
nicht darüber nachgedacht hatte, wieso sie nicht darüber nachdenken wollte, war die Option Senden schon keine mehr und ihre Antwort unterwegs.
    Nun sitzt diese Person vor ihr, die eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Bild ihrer Mutter aufweist, deren schimmernde Seidenbluse vermutlich mehr gekostet hatte, als Marta in einem halben Jahr für Kleidung ausgibt. Eine Erscheinung, die Aufmerksamkeit erheischt, ohne diese einzufordern, die man gerne kennen lernen würde, wenn man sie zufällig auf einer Party träfe, obwohl Kontaktfreudigkeit das genaue Gegenteil von dem ist, was ihr Spiegelbild noch vor zwei Stunden ausstrahlte. Wenig später zitterte sie dermaßen vor Angst, dass Martas Furcht oder Zorn, oder woraus auch immer dieses Gemisch bestand, in sich zusammenfiel wie eines von diesen Bierdeckelgebilden, die ein wortkarger Stammgast jeden Samstagvormittag im Café vor sich aufbaut, während er einen Fernet nach dem anderen trinkt. Je länger er sitzt, desto kleiner wird das Bierdeckelhaus, bevor seine Bestandteile über die Tischplatte flattern.
    Greta schiebt sich eine Scheibe Tomate in den Mund, kaut bedächtig. Sie macht nicht den Eindruck, als warte sie darauf, dass Marta einen Gesprächsfaden aufgreift, und sieht seltsam zufrieden aus. Die Bewegungen ihrer Hände sind ruhig geworden. Sie bekäme jetzt eine Pappdeckelkonstruktion über mehrere Etagen hin.
    Während sie umhergewandert waren, haben sich die Zeichen der Angst verloren, und nun benimmt sie sich, als hätten sie stumm die Sachlage geklärt, obwohl Klarheit das Letzte ist, was hier herrscht.
    Sie soll verschwinden – sie soll bleiben – sie soll verschwinden – sie soll … Fremdschaft – Freundheit – die Dinge mischen sich. Wir können nichts auslöschen, kein Vergeben, kein Vergessen.

    Das alberne Spiel mit den Blütenblättern hinterlässt ergebnisunabhängig eine zerfetzte Blume.
    Greta tunkt ein Stück Fladenbrot in die Sauce.
    Entweder ist ihre Tarnung wieder gut aufgestellt oder sie wiegt sich in Sicherheit. Warum sollte sie?
    Chanelrote Farbspuren auf Gretas Serviette geben Marta den Rest.
    »Als Mutter warst du beschissen!«
    Jetzt wird sie verschwinden.
    »Ja«, sagt Greta. »War ich.«
    Sie sagt es ohne dramatische Untertöne. Fast so, als hätte man festgestellt, dass sie eine schlechte Schülerin gewesen ist oder ihr Leben lang zu mager. Sie lässt dabei nicht einmal den Blick sinken, schaut Marta direkt an, beinahe gelassen, wie eine, die diese Feststellung schon unzählige Male selbst gemacht hat, so dass die Worte aus dem Mund der Tochter lediglich eine Bestätigung des eigenen Gedankens bedeuten: Als Mutter warst du beschissen.
    Marta weiß nicht, wie es ist, ein Kind zu haben, aber wenn sie eines hätte, wäre dieser Satz vermutlich der schlimmste, den sie sich aus dessen Mund denken könnte. Der größte anzunehmende Unfall, von absoluter Zerstörungskraft. Wie kann Greta so ruhig bleiben?
    Wäre nicht jegliche Farbe aus ihrem Gesicht gewichen, man könnte meinen, sie fände das in Ordnung so.
    Marta widersteht dem für sie unbegreiflichen Drang, Greta etwas Freundliches, die vorigen Worte Abschwächendes zu sagen, gibt vor, auf die Toilette zu müssen. Sie hätte ohnehin nichts gefunden, was die Brutalität ihrer Aussage zurücknehmen könnte. Sie ist nicht mit der Absicht gekommen, ihrer Mutter diesen Satz ins Gesicht zu schleudern, aber das kann Greta nicht wissen.

    Als hätte sie darauf gewartet.
    »Wer aber von euch ohne Schuld ist …« Einer der Werfer konnte nicht rechtzeitig innehalten: Der erste und letzte Stein traf; man beschloss, ihn, ob der andernfalls verschenkten Pointe, zu verschweigen. Der Chronist erklärte sich einverstanden, sagte: »Wenigstens sind seine Hände jetzt leer«, und begann mit der Niederschrift.
    Ich sollte doch wieder auf Computerterminologie zurückgreifen: die Gefahr der Entgleisung ist deutlich geringer. Die Schuldfrage existiert in der digitalen Welt nicht.
    Im Waschraum lässt sich Marta Wasser über das Gesicht laufen, betrachtet im Spiegel, wie ein kleines Rinnsal an ihrem Nasenbein herunterwandert, sich im winzigen Flussbett ihres Mundwinkels sammelt, von der Wölbung des Kinns kurz abgebremst wird und auf ihrem Hemdkragen endet. Der Versuch, die Wasserflecken mit dem Handtuch zu

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