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An Paris hat niemand gedacht

An Paris hat niemand gedacht

Titel: An Paris hat niemand gedacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Peters
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hatte, bevor sie heute früh ihre Wohnung verließ. Der Buchblock hat genau die Dicke von Gretas kleinem Finger. Sie lässt ihn an den Seiten entlanggleiten, spürt leichte Unebenheiten, die sich rau und tröstlich anfühlen. Ein Beweismittel, auf dem sich keine Verteidigung aufbauen lässt. Möglicherweise könnte es dennoch Hinweise geben, in einem Prozess, von dem Greta hofft, dass er nie stattfinden möge. Beim Aufschlagen fällt ihr ein getrocknetes Blatt entgegen; nicht alt genug, um noch aus Bouaké zu stammen. Die Stelle ist mit einem Pfeil markiert:
    Eines Tages, in der Zeit vor den Zeiten, rief der Niamye sämtliche Lebewesen der Erde zu sich. Als sie nun alle bei ihm versammelt waren, sprach er: »Ein jeder soll sagen, was er auf der Erde besitzen will. Ich werde es erlauben.« Da verlangte der Mensch, in einem Dorf zu leben und die Felder zu bestellen; die Tiere wünschten, im Busch wohnen zu dürfen; nur das Chamäleon schwieg. Niamye wandte sich ihm zu und fragte: »Und was begehrst du?« Das Chamäleon antwortete: »Ich will, dass ein jeder Ort, auf dem ich mich niederlasse, der meine sei.«
    So kommt es, dass die Menschen in Dörfern leben und die Tiere im Busch. Das Chamäleon aber wechselt seine Farbe nach dem Ort, an dem es sich gerade aufhält.
    Am Rand eine handschriftliche Notiz: Chamäleon , Dornseiff-Bedeutungsgruppen: 2.8 Tierarten 5.25 Veränderlich 7.27 Bunt 9.9 Unbeständig.

    Sophia hat darin gelesen, zumindest mit diesem einen Text sogar gearbeitet. Sie muss das Buch irgendwann aus Martas Zimmer genommen haben, bevor Richard es zu einem weiteren Gästezimmer umbauen ließ, in dem nie jemand einquartiert wurde. Martas Spuren waren nicht so gründlich beseitigt worden, wie Richard dachte.
    Meine liebe Sophia.
    Warum das Chamäleon seine Farbe wechseln kann.
    Gretas Lieblingsgeschichte.
    Einen Brief habe ich meiner ältesten Tochter nie geschrieben.
    Einmal hatten sie und die Mädchen nach dem Vorlesen ein Gespräch über ihre Lieblingstiere geführt. Die Grillen waren an diesem Abend so laut gewesen, dass das Fenster geschlossen werden musste, damit sie einander verstehen konnten. Marta wollte sich nicht zwischen Leopard und Kobold entscheiden und wurde ärgerlich, als Greta ihr erklärte, Letzterer sei gar kein Tier. Sophia hatte die Hyäne genannt, und Greta erklärte das Chamäleon zu ihrem Favoriten, was die Mädchen zum Lachen brachte. »Das ist doch so hässlich!« – »Gar nicht hässlich«, hatte Greta erwidert und den beiden einen Zoobesuch beim nächsten Deutschlandaufenthalt versprochen; sie würden schon sehen, es gäbe sehr schöne Exemplare, kleine und große, und alle seien in der Lage, ihre Augen unabhängig voneinander zu bewegen, lustig sei das. »Lies lieber noch eine Geschichte«, riefen zwei helle Kinderstimmen, und Greta vertröstete sie lachend auf den nächsten Abend. Das war wenige Tage, bevor Greta auf der Veranda Martas Gesang gelauscht hatte und zu der Überzeugung gekommen war, die Liebe dieses Kindes nie und durch nichts gewinnen zu können. Ihr Versagen wurzelt womöglich darin, dass sie das als Tatsache hingenommen hatte.

    Sophia war nur Zuhörerin; die Schöpferin der zahlreichen Todesarten, die ihr, der Mutter, zugedacht wurden, ist Marta gewesen.
    Wir hätten die Fenster nachts immer geschlossen halten sollen. Ich hätte es überhören, ignorieren und in jedem Fall längst vergessen haben müssen.
    Das alles ist viel zu lange her.
    Im Zoo sind sie nie gewesen. Chamäleons sind Einzelgänger; hält man mehrere in einem Terrarium, kann es geschehen, dass sie sich gegenseitig umbringen. Wahrscheinlich hätte der Anblick der schuppigen Echsen den Kindern Angst gemacht.

    Das Buch liegt ihr zugewandt auf dem Tisch, als Marta wieder Platz nimmt. Greta schaut kurz auf, »das habe ich dir mitgebracht«, und heftet ihren Blick augenblicklich wieder auf ein kleines elektronisches Gerät, in das sie mit fliegenden Fingern Zahlen und Buchstaben tippt.
    »Bin gleich fertig.«
    Marta legt die Hand auf den Einband und zieht das Buch zu sich heran.
    Dort, zwischen den Strömen Nzi und Bandama …
    Der Rhythmus von Gretas Fingern verlangsamt sich, kommt zum Stillstand, als Marta das Buch aufklappt. Ein Seitenblick zwingt die graublauen Augen zum Rückzug. Tarnung, denkt Marta, damit kenne ich mich aus, und beginnt zu lesen.
    Einmal, zu der Zeit, als die Tiere noch bei Niamye im Himmel lebten, vollbrachte die Spinne eine Tat, für die sie belohnt werden sollte. »Eine

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