An Paris hat niemand gedacht
Händedruck, ein lässiges »Hallo«, gar nicht?
Ein paar sachliche Nachrichten sind zwischen ihnen hin- und hergegangen: Datum, Treffpunkt, Uhrzeit, mehr nicht. Gretas SMS stets in Großbuchstaben, kein Versuch, Marta ihre Stimme aufzudrängen, das Wort Mutter wurde nicht benutzt.
Jetzt beträgt der Abstand zwischen ihnen etwa sechs Meter. Sie beäugen sich in den Unschärfen eines alten Spiegels, warten darauf, dass etwas passiert.
Komme ich zu dir oder du zu mir?
Noch gibt es auch die Möglichkeit, einfach wieder zu verschwinden.
Wir sind beide zu alt für solche Spielchen.
18:02 h.
Marta stellt sich vor, wie sie langsam durch den Raum schlendert, ihre Tasche neben dem Stuhl ablegt, die Hand an der Rückenlehne: »Darf ich?«
Nein, so geht es nicht, denkt sie, stemmt die Ellenbogen fester auf die Theke, deutet mit dem Zeigefinger auf ihr Glas. Der Mann hinter der Bar nickt und tippt die Bestellung in die Kasse. Auch Greta hat sich nicht von der Stelle gerührt. Ihre Hand wandert zur anderen Jackentasche, zieht ein Telefon heraus, hält es ans Ohr. Marta meint, ihre Ringe klappern zu hören, was bei dem Lärm rings umher nicht sein kann. Gretas Haltung strafft sich, ein kurzes Lächeln, als sie lebhaft in den Hörer spricht, gibt ihr für einen Moment das Aussehen einer Frau, die weiß, was sie will. Dann drückt sie fahrig etwas in die Tastatur, wirft das Gerät achtlos in ihre Handtasche. Augenblicklich ist der Ausdruck von souveräner Freundlichkeit verschwunden. Marta weicht rechtzeitig aus, bevor sich die Spiegelblicke erneut treffen können.
»Hast du vielleicht eine Zigarette für mich?«
Die alte Frau an der Bar ist bei dem Versuch, sich Marta zuzuwenden, so weit in Schieflage geraten, dass sie vom Hocker zu fallen droht. Mit einem gezielten Griff nach ihrem Ellenbogen zerrt ein Kellner sie in die Senkrechte zurück.
»Au! Lass mich!«
»Ich habe dir gesagt, du sollst die anderen Gäste nicht anschnorren.«
Marta lässt ihre Packung über den Tresen schlittern. »Ist schon in Ordnung.«
Die Alte macht sich über die Schachtel her, zieht eine, dann eine zweite Zigarette heraus, hält sie in die Höhe.
»Auch zwei?«
Marta nickt.
»Danke, du bist nett!«
Der entnervte Blick des Kellners besagt das Gegenteil. Marta zuckt entschuldigend mit den Achseln und schiebt der Frau ihr Feuerzeug hin, die es hastig ergreift und schnaufend zu rauchen beginnt.
»Wirklich nett! Wie heißt du?«
Marta überhört die Frage. Die Aufmerksamkeit der Alten wird von der Flasche in der Hand des Barmanns abgelenkt, die sich über ihr Glas senkt.
»So, einen kriegen Sie noch aufs Haus, dann gehen Sie brav woandershin.«
Ihre Antwort ist ein unverständliches Gemurmel. Der Kellner macht hinter ihrem Rücken dem Barmann Zeichen und zischt ärgerlich, als eine Reaktion ausbleibt.
Die Frau stürzt den Cognac herunter und schiebt das leere Glas bis zur hinteren Kante der Theke. Den Kopf schief gelegt, versucht sie ein aufforderndes Lächeln, doch der Barmann verneint: »Finito!« Die Alte nickt und beginnt die verbliebene Zigarette liebevoll in ein Tuch einzuwickeln, das sie aus ihrer bunt bedruckten Tasche gezogen hat. Martas Packung rutscht zurück, gefolgt vom Feuerzeug.
»Wiedersehen.«
Der Geruch von alkoholversetztem Schweiß weht herüber, vermengt sich mit dem süßlichen Duft einer Mischung aus Moschus und Patschuli.
Die Alte schlurft zum Ausgang, hebt noch einmal grüßend die Hand, ohne sich umzuwenden, und verschwindet im Regen.
»Der Laden hat früher ihrem Mann gehört«, meint der Barmann erklären zu müssen. »Es fällt mir schwer, sie wegzuschicken, aber was soll ich machen?«
Marta nickt und registriert erleichtert, dass der Mann ihr Schweigen richtig deutet und darauf verzichtet, die Geschichte im Detail zu erzählen.
Als sie aufschaut, ist der Platz, an dem Greta gesessen hat, leer.
Greta ist lange vor der verabredeten Zeit da, vergewissert sich bei der Bedienung, dass dies die richtige Adresse ist: Café la dolce vita, unter den S-Bahn-Bögen, direkt am Bahnhof Hackescher Markt. Sie steht eine Weile in der Mitte des Lokals, bis sie sich für den Platz am Fenster entscheidet. Von dort aus kann sie die Eingangstür im Auge behalten, ohne sich zu verrenken. Warten ist gut, denkt sie, solange ich warte, sind alle Möglichkeiten offen. Eine halbe Stunde vergeht im Gleichmaß der Atemzüge, im Kommen und Gehen der Gäste, in der Hoffnung auf etwas, dem sie keinen Namen zu geben wagt. Aus
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