An Paris hat niemand gedacht
irgendeinem Grund war sie sich sicher, dass Marta später als vereinbart erscheinen würde; ein beiläufiges Aufmerken, als sich wieder etwas am Eingang rührt, erwischt sie kalt und unvorbereitet.
Sie erkennt sie sofort. Schon als Marta noch hinter der Glastür steht, weiß Greta, dass sie es ist, die nach der Klinke greift. Ihre Bewegungen ähneln so sehr denen von Sophia, dass Greta erschrickt. Meine Tochter, denkt sie, da kommt diejenige von meinen Töchtern, deren Mutter ich nicht sein soll. Ein leichter Schwindel verwischt die Konturen, schraubt sich ins Hirn, drängt für Sekunden Zeit und Raum beiseite. Reiß dich zusammen, denkt sie und: das Schlimmste ist überstanden. Selbst wenn Marta beim Anblick ihrer hyperventilierenden Mutter die Flucht
ergreifen sollte, sie war da, ist an einen Ort gekommen, von dem sie wusste, dass sie dort von ihr erwartet wird.
Sie ist einmal nicht vor mir weggelaufen, sondern zu mir hin.
Als Greta meint, wieder klar zu sehen, und sich suchend umschaut, sitzt Marta mit dem Rücken zu ihr an der Bar. Der erste Versuch, das Glas zum Mund zu führen, scheitert kläglich unter den verwunderten Blicken ihres Tischnachbarn. Beim zweiten Mal geht es besser.
Ich veranstalte Events mit fünfstelligem Etat, werde selbst von den Geschäftsleitern gefürchtet, entscheide über Sieg oder Niederlage einer Kollektion, und jetzt mache ich mir vor Angst ins Hemd angesichts einer Begegnung, die ich mir seit Jahren herbeiwünsche.
Greta schaut aus dem Fenster, sieht einer Passantin zu, die verzweifelt an ihrem zusammengeklappten Schirm zerrt. Mechanisch greift sie nach dem Telefon, will den Anrufer wegdrücken, nimmt das Gespräch dann doch entgegen. Valerie, Calvas Sekretärin, hat den Auftrag, sich nach Gretas Befinden zu erkundigen und einen Termin für ein Treffen Ende des Monats in Paris zu vereinbaren. Greta versichert, auf dem Weg der Besserung zu sein, eine lästige Sommergrippe, nächste Woche sei sie wieder einsatzfähig. Valerie rät, sich auszukurieren, Monsieur Calva habe das auch gesagt, er selbst sei nach der Reha gesundheitlich wesentlich besser dran und freue sich, mit Madame Wördehoff demnächst seine neueste Idee besprechen zu können. Greta lacht. »Es geht ihm wirklich besser.« »Ja«, sagt Valerie, »ich bin sehr froh.« – »Ich auch!«
Als das Gespräch beendet ist, schaltet Greta das Telefon ab.
Marta ist hier, ich muss jetzt nicht erreichbar sein.
Ihr Atem ist ruhiger geworden, der Schwindel hat sich verflüchtigt,
nur die Hände verweigern noch den vollen Gehorsam.
Im Spiegel kann sie Martas Gesicht erkennen: Die dunklen Augen, das kräftige kastanienbraune Haar. Eine Strähne, die sich selbständig macht, schaukelt bedenklich nahe an der glühenden Zigarettenspitze vorbei, wird hinters Ohr gestrichen mit einer Geste, die eher einer Züchtigung gleicht. Die Ähnlichkeit mit Sophia ist mit einem Mal verschwunden. Greta hatte sie kleiner in Erinnerung, weniger kantig. Auch die Stimme wird sich mit den Jahren verändert haben. Marta hat Gründe genug, wütend zu sein.
Mein Kind ist eine erwachsene Frau geworden, ohne dass ich dabei sein konnte.
Die Blicke treffen sich beinahe, finden keinen Halt auf der Flucht voreinander. Greta wundert sich nicht.
Ich muss noch warten.
Martas Rücken dreht sich leicht nach rechts zu der ungepflegt aussehenden alten Frau hin, die bis vor kurzem noch an einem Tisch neben der Kuchenvitrine gesessen hat. Sie sprechen miteinander, Kellner und Barmann schalten sich ein. Marta gibt der Frau von ihren Zigaretten, schaut freundlich auf die bemitleidenswerte Gestalt. Der Kellner entfernt sich kopfschüttelnd. Vier Minuten über der verabredeten Zeit.
Während die Alte mühsam vom Barhocker steigt, macht Greta sich auf den Weg.
Ich gehe jetzt.
Marta dreht sich nicht um. Das Geräusch von energisch aufs Parkett gesetzten Absätzen nähert sich, verlangsamt kurz, hält an. Deutlich leiser setzen sich die Schritte wieder in Bewegung, stoppen in unmittelbarer Nähe. Jemand nimmt links von ihr an der Bar Platz.
Gepflegte, rot lackierte Fingernägel umschließen ein Glas, in dem ein einsames Stück Orangenschale zittert.
Der Barmann schaut fragend hin. »Noch einen?«
Der Versuch eines »Ja« erstickt in Räuspern, sie presst das Glas auf die Thekenplatte, als drohe es nach oben wegzuspringen, sobald sie es loslässt.
Sie hat Angst. Vor mir.
Marta sieht sich noch immer nicht zu ihr um, schaut den Händen zu, die jetzt das leere Glas
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