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An Paris hat niemand gedacht

An Paris hat niemand gedacht

Titel: An Paris hat niemand gedacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Peters
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Frau aus Gold schenke ich dir«, sagte Niamye, aber die Spinne wollte keine Goldfrau. Niamye wunderte sich, war dies doch das kostbarste unter den Geschenken. »Gib mir lieber die Kalebasse da«, bat die Spinne, und Niamye wunderte
sich noch mehr. »Du lehnst eine Frau aus Gold ab und willst dich mit einer Kalebasse zufriedengeben?«
    Die Spinne aber wusste, dass diese Kalebasse als Gefäß für die Märchen diente, und begehrte sie aus diesem Grund. »Nun gut«, sagte Niamye, »du kannst sie haben.« Glücklich machte sich die Spinne mit ihrer Belohnung davon. Als sie aber in ihrem Übermut über eine Wurzel stolperte, fiel die Kalebasse zu Boden, brach in tausend Stücke, und all die Märchen rannten in den Dschungel. Da weinte die Spinne auf und schrie in ihrer Verzweiflung: »Wenn ihr schon vor mir geflohen seid, so muss ich wenigstens in vielen von euch vorkommen!«
    Seit diesem Tag gibt es die Spinnengeschichten.
    Goldfrau oder Märchenkalebasse und am Ende keines von beiden.
    »Dumme Spinne«, hatte Sophia gekichert, aber Greta hatte ihr widersprochen: »Ein Platz in Geschichten bewahrt davor, vergessen zu werden.« Die Traurigkeit der Mutter war ihnen gelegentlich auch schlichtweg auf die Nerven gegangen.
    Marta hält das Buch dicht an ihre Nase.
    Damals schon hatten die Seiten diesen leicht muffigen Geruch von Kleidern, die zu lange in wurmstichigen Schränken sparsamer Großmütter gelagert worden waren.
    Die Spinne hatte keine von ihnen zum Liebling erkoren. Obwohl sie listiger als viele der anderen Tiere war, wurde auch sie gelegentlich hereingelegt. Sophia gefiel es besonders, wenn die Spinne über ihre eigenen Ränke stolperte. Wie sie gelacht hatte bei der Geschichte mit dem Schimpansen.
    Und so musste die schlaue Spinne an ihrer eigenen List zugrunde gehen …
    Gretas Stimme war höher gewesen, klarer, trug noch nicht die Spuren von jahrzehntelang im Übermaß an ihren Bändern vorbeigezogenem
Rauch. Eine gute Vorleserin: fesselnd und virtuos. Sie gab den Tieren verschiedene Tonlagen: ein schrilles Keifen für die Spinne, tiefes Brummen für den Leoparden, schräges Quäken für das Chamäleon und ein warmer Hauch für Niamye, obwohl die Mädchen stets ein Donnergrollen erwarteten. »Nein«, pflegte Greta zu sagen, »Niamye ist ganz sanft.«
    »Auch wenn er zornig ist?«
    »Sein Zorn ist so fürchterlich, dass er, würde er laut vorgetragen, die Welt mit einer Silbe zerstören könnte. Deshalb schreit Niamye nie. Dem wirklich Mächtigen genügt ein Flüstern.«
    Die Mädchen verstanden nicht, was sie meinte, liebten es aber, wenn Greta gelegentlich die Geschichten weiterspann, Fabelwesen dazuerfand und sie verrückte Dinge tun ließ. Das kam nicht oft vor, aber wenn es so war, wusste Marta, dass dies kein Tag gewesen war, an dem die Mutter geweint hatte.
    Wo sind diese Szenen die ganze Zeit gewesen?
    Eines Tages hieß es überraschend, die Kinder seien nun alt genug, um alleine ins Bett zu gehen, sie könnten sich ja gegenseitig Geschichten erzählen, dafür bräuchten sie die Mutter nicht. Das Buch lag noch lange unberührt auf dem Nachttisch zwischen Sophias und Martas Bett, bis Marta es bei der Abreise aus Bouaké, in ihr rotes Baumwollkleid eingewickelt, mit nach Deutschland nahm. Irgendetwas musste passiert sein, weswegen Greta niemals mehr daraus vorlesen wollte. Sophia hatte noch mehrmals darum gebeten, aber Greta war ohne Begründung bei ihrer Ablehnung geblieben. Sie hatte stumm den Kopf geschüttelt und dabei Marta angesehen. Marta wusste, dass es ihre Schuld sein musste, worin diese Schuld aber bestand und warum sie zum Ende ihres abendlichen Beisammenseins führte, erfuhr sie nicht. Vielleicht hätte sie fragen sollen, was sie so unverzeihlich falsch gemacht haben könnte. Schließlich hatte sie kein Kapitalverbrechen
begangen. Jedenfalls nicht in der Wirklichkeit. Wie schwer wiegt ein ausgedachter Tod in gesungener Form? Morden für das Liederhaus: In gewisser Weise hatte es funktioniert; nachhaltiger, als es je ihre Absicht war.
    Sing ich dir ein Lied,
    denk ich dir ein Haus,
    bau ich dir ein Heim aus Liedern draus!
    Und die Mutter durfte nicht ein einziges Mal mit.
    Nein, Greta kann davon nicht wissen. Oder doch? Warum, denkt Marta, bin ich nie auf diese Möglichkeit gekommen? Sophia? Die hat es ihr nicht verraten, das nicht.
    Eine Zigarette an der frischen Nachtluft, die Veranda geht rund ums Haus, die Fenster offen, der Schall einer Kinderstimme schlüpft durch die Maschen eines

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