An Paris hat niemand gedacht
Moskitonetzes. So könnte es gewesen sein.
Greta hätte der Rolle, die ihr in Martas Geschichten zugedacht war, wohl doch das Vergessen vorgezogen.
Ich war keine acht Jahre alt, da ist Schuldfähigkeit faktisch nicht vorhanden. Hirngespinste eines phantasiebegabten kleinen Mädchens, wie Kinder halt so sind. Selbst wenn Greta etwas davon mitbekommen hatte, sie kann das nicht ernsthaft zum Anlass für irgendwas genommen haben. Das wäre absurd.
Aber eine mögliche Erklärung.
Mit Martas Augen ist etwas nicht in Ordnung: ein Brennen zwingt Feuchtigkeit auf die Netzhaut, die entfernt werden muss, bevor sie sich selbstständig machen kann; flatternd gerät die Luftaufnahme aus dem Takt.
Es war kein Spiel. Die Erzählerin ist immer der Mörder. Elternmord verjährt nicht.
Greta hätte ihr, wenn sie darum wüsste, diese alten Fabeln
nicht mitgebracht, obwohl die streng genommen mit den Bedingungen für die Errichtung des Liederhauses nichts zu tun hatten. Sie waren nur eine Zeit lang der erste Teil eines Abendrituals gewesen, für dessen zweiten Teil die Abwesenheit der Mutter erforderlich war, um mit ihrem Tod die Türen zu einem abenteuerlich schönen Leben öffnen zu können.
Wenn etwas zerstört werden konnte, muss vor diesem Zeitpunkt etwas da gewesen sein. Nichts davon ist sicher: weder das eine noch das andere.
Und fragst du mich, was mit der Liebe sei, so sag ich dir:
Ich kann mich nicht erinnern.
In einem von Gretas Büchern hatte sie einmal diesen Satz gefunden und nicht verstanden, was er bedeuten könnte, obwohl ihr die Worte gefielen. Die Stelle war unterstrichen und mit einem Ausrufezeichen versehen, und Marta hatte sich gewundert. Auf die Idee, mit Greta darüber zu sprechen, wäre sie nie gekommen. Einige Wochen nach diesem Fund war sie ohnehin fort gewesen.
Solange ich denken kann, war ich der Überzeugung, dass Greta keine Ahnung von mir hat. Aber ich habe auch keinerlei Vorstellung davon, wer sie ist.
Die Feststellung, man habe einander verpasst, setzt den vorausgegangenen Versuch einer Annäherung voraus.
Ich weiß nichts. Ich bin hier. Ich kann wieder gehen.
Marta klappt das Buch zu, steckt es behutsam in ihre Tasche.
»Danke.«
Ich sollte mehr dazu sagen, denkt sie, es nicht bei einem kühlen »danke« belassen. Die Stimme könnte ihren Dienst versagen, der Zugriff auf ein ordnungsgemäßes Zusammenspiel von Muskeln und Bändern muss neu geordnet werden, bevor wieder verlässlich mit dem Instrument umgegangen werden kann.
»Bitte!«, sagt Greta. »Ich dachte, vielleicht hast du Freude daran.«
Marta bemerkt, dass das, was von der anderen Tischseite herüberweht, Erleichterung ist.
Kein vernünftiger Mensch macht sich Gedanken über etwas, das man als kleines Kind gesungen hat.
»Ja, habe ich bestimmt. Diese Geschichten hatte ich fast vergessen.«
Der lackschwarze Scheitel senkt sich wieder über den elektronischen Terminkalender. Musik tönt verhalten aus den Lautsprechern über ihnen; das Klappern von langen Fingernägeln auf poliertem Edelstahl mischt sich mit der Stimme eines türkischen Popsängers.
»Tippst du was Geschäftliches?«
Greta lässt die Hand mit dem Gerät in ihren Schoß fallen, grinst ertappt und bewegt ihr Kinn von einem Schlüsselbein zum anderen.
Marta fliegt ein Lächeln übers Gesicht, das wieder verschwindet, als Gretas Blick doch noch bei ihr ankommt, als hätte jemand ein Fenster geöffnet und den Luftzug gleich wieder unterbrochen.
Die Bedienung trägt die Hauptgerichte auf, erkundigt sich, ob eine weitere Karaffe vom Roten gewünscht werde. »Ja, bitte.« Fleischspieße mit Gurkensalat und Bulgur, Knoblauch-Köfte in Tomatensauce mit Bratkartoffeln. Die Teller so groß, dass die Gläser zwischen ihnen kaum noch Platz finden. »Afiyet olsun! Guten Appetit!«
Dampf steigt auf und verwischt die Konturen des Gegenübers.
»Was sollen wir jetzt machen?«
»Essen«, antwortet Greta, »das wird sonst kalt.«
»Keiner da.«
Die kleine Friedhofskapelle ist leer. Der durchdringende Geruch von Lilien, der Marta an verwesende Leichen denken lässt, mischt sich mit dem Duft von Paraffin, in der Luft stehen Überreste billig parfümierter Frauen. 4711 versus TOSCA. Greta rümpft die Nase.
»Wir sind zu spät.«
Auf einer der vorderen Bänke liegen kopierte Handzettel: Aussegnungsgottesdienst für Richard Wördehoff.
»Aussegnung. Komisches Wort.«
»Immerhin ein schriftlicher Beweis.«
»Sind wir zur Beweisaufnahme gekommen?«
»Hier steht:
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