Analog 3
sicher wie ein Messer.
„ Wenn du wüßtest, was ich weiß – was würdest du heute sagen, Vater?“ Obwohl er die Frage stellte, wußte er bereits die Antwort. Wenn sein Sohn, was selten genug war, kam, um einer Predigt von ihm beizuwohnen, hörte er immer wieder den gleichen abschließenden Spruch.
„Laßt euren Verstand niemals stärker werden als euren Glauben, meine Schafe! Ohne Glaube erginge es uns nicht viel besser als den armen Meerschweinchen, die diese Möchtegern-Propheten aufschneiden, um ihre teuflischen Experimente durchzuführen …“
„Sie können jetzt Ihren Gurt abschnallen, Signore.“
Frakes blickte erschrocken nach oben. Vor ihm stand die hübsche, schwarzhaarige, dunkeläugige Stewardeß, die ihm in Rom ein „Willkommen an Bord“ entboten hatte. Er schaute sich um und war erstaunt zu sehen, daß die letzten der Passagiere bereits dem Ausgang im Bug der Maschine zustrebten.
„Entschuldigung“, sagte er und tastete nach der Gurtschnalle. „Ich muß wohl in den Tag hineingeträumt haben.“
„Geht es Ihnen gut?“
„Oh, mi sento molto bene, grazie . Nur ein bißchen müde, das ist alles.“
„Für einen Amerikaner sprechen Sie sehr gut Italiano , Signore. Vermutlich ist das nicht Ihr erster Besuch?“
„Letzten Sommer war ich für zwei Monate hier. Damals habe ich ein paar nützliche Redeweisen aufgeschnappt.“
„Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.“
Frakes zwängte sich aus seinem Sitz und zog die Aktentasche mit ihrem wertvollen Inhalt unter dem Sitz vor ihm hervor. Er war dankbar, seine Beine nach dieser langen Flugreise wieder ausstrecken zu dürfen.
Nach dem organisierten Chaos, das er im Stadtstaat Rom angetroffen hatte, ging es im sardischen Zoll fast friedlich zu. Hier standen keine der Soldaten und Carabinieris, die in Rom zu Hunderten im Einsatz waren. Die Stadtväter schienen sie für nötig zu halten. Natürlich, die Sarden mußten sich im Moment auch nicht gegen Agenten der Republik Neapel schützen.
Nach einer halben Stunde hatte er bereits den Flughafen verlassen und fuhr in einem Taxi nach Norden, dem grauen Schmutzfleck am Horizont zu. Dort lag Torino.
„Sind Sie geschäftlich nach Sardinien gekommen?“ fragte der Taxifahrer über seine Schulter hinweg, als er sich elegant zwischen einem entgegenkommenden Fiat und einem Kühllaster, der die halbe Straße blockierte, hindurchschlängelte.
„Ja“, sagte Frakes und starrte geistesabwesend auf die glitzernde Nässe auf der Schnellstraße. Das elektrostatische Knistern der Regenrepulsoren an der Windschutzscheibe und das tiefe Summen der Turbine schläferten ihn ein.
„ Ingegnere … Ingenieur?“
Frakes schüttelte seinen Kopf. „Scienziato.“
„Ach, Sie wollen wohl unsere Plastikfabrik besuchen, ja?“
„Nein, die Kathedrale.“
„Sind Sie gekommen, um das Heilige Leichentuch zu besichtigen?“
Frakes nickte.
„Signore, Sie haben heute ihren Glückstag! Mein Bruder ist Touristenführer. Er wäre glücklich, Sie persönlich führen zu dürfen. Wenn Sie es wünschen, wird er vielleicht für Sie eine private Führung arrangieren, Signore. Das kostet nicht viel. Nicht mehr als eine Million Neue Lire. Er wird ein gutes Wort mit den Wächtern wechseln, und vielleicht läßt man Sie dann sogar die Reliquie berühren.“
Obwohl er seine Augen kaum aufhalten konnte, mußte Frakes lächeln. „Die Zahlung hat natürlich im voraus zu erfolgen; und zwar an Sie, nicht etwa an Ihren Bruder.“
Durch den Rückspiegel schauten ihn die braunen Augen des Fahrers ausdrucksvoll an. Seine Achseln hoben sich fast bis über die Ohren. „Heute wird das so in Sardinien gemacht, Signore.“
„Sie würden doch nicht im gleichen Moment, wo ich Ihnen das Geld gebe, damit verschwinden, oder?“
„Signore, Sie verletzen mich!“
„Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen erzähle, daß das Leichentuch in den letzten achthundert Jahren nicht öfter als fünfzigmal für die Öffentlichkeit ausgestellt wurde?“
Der Taxifahrer grinste. Ihm schien es überhaupt nichts auszumachen, bei seinen Gaunereien ertappt worden zu sein. „Wie ich feststelle, fahre ich einen Kenner der Materie.“
Frakes lachte. „Da haben Sie nicht ganz unrecht. Ich habe die letzten beiden Jahre damit verbracht, das Leichentuch zu studieren. Ich weiß viel mehr darüber als mir lieb ist.“ Frakes spürte plötzlich ein Gefühl der Schuld, das ihn schmerzte, als ihm gewahr wurde, daß seine Aussage mehr Wahrheit enthielt
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