Analog 3
als beabsichtigt.
„… mehr als mir lieb ist.“
Das Leichentuch von Turin ist ein Stück Leinen, dessen Ursprung auf das erste Jahrhundert n. Chr. zurückführt. Es mißt 4,3 Meter in der Länge und 1,4 Meter in der Breite. Die bloße Tatsache seines hohen Alters ist jedoch nicht der Grund dafür, daß das Leichentuch verehrt wird.
Auf der Oberfläche des Leichentuchs, für das bloße Auge erkennbar, ist der Abdruck der Gestalt eines Mannes wie durch ein Wunder erhalten geblieben. Tatsächlich sind es zwei Abdrücke, eine Vorderseite und eine Rückseite. Sie gehen am Kopf ineinander über, woraus man schließen kann, daß das Tuch der Länge nach um einen Leichnam gewickelt und entfernt wurde, bevor die Verwesung einsetzte.
Die Abbilder sind so genau, daß es möglich ist, einige Details über den Mann auszusagen, der einmal in diesem Tuch gelegen haben mußte. Er war 172 Zentimeter groß, hatte ein hübsches Gesicht, einen Bart und lange, herabfallende Locken. Er lag nackt und mit weit ausgestreckten Beinen da. Der linke Arm war über den rechten gekreuzt, sie waren offensichtlich aneinander gefesselt, um der Leichenstarre entgegenzuwirken.
Interessanter als seine äußerliche Erscheinung ist die Art seines Todes.
Auf der Oberfläche des Leichentuchs sind eine Anzahl von Blutflecken in bedeutungsvoller Weise angeordnet. An den Händen sind Merkmale von Wunden sichtbar, die wohl nur so zustande gekommen sein konnten, daß Nägel durch jedes Handgelenk geschlagen wurden. Ähnliche Merkmale zeigen sich an den Füßen. Nur wurden diese mit einem einzigen Stift zusammengenagelt. Ohne Zweifel war dieser Mann das Opfer einer Hinrichtung am Kreuz.
Einige Merkmale an der Frontseite des Abdrucks weisen darauf hin, daß er, bevor er ans Kreuz genagelt wurde, von zwei Männern ausgepeitscht worden war. Ein großer Blutfleck am Unterleib beweist, daß ein kurzer Speer in seine rechte Seite gestoßen wurde, wahrscheinlich als coup de grâce nach seinem Tod. Am aufschlußreichsten sind die kleinen Blutflecken an seinem Kopf. Die Anordnung dieser Flecken weist auf eine Dornenkrone hin, die wie eine Kappe getragen und als äußerste Folter mit einem Kinnband fest an den Kopf gepreßt wurde.
Laut Überlieferung ist dies das Leichentuch von Jesus Christus, das Simon Petrus nach der Wiederauferstehung zur Aufbewahrung gegeben wurde. Leider schweigt die christliche Lehre darüber, was mit dem Tuch in den anschließenden Jahren passiert sein mochte.
Den ersten unabhängigen, geschichtlichen Hinweis auf das Leichentuch von Christus gibt uns Sankt Nino im dritten Jahrhundert. Im Jahre 570 berichtet ein unbekannter Pilger von Piancenza, daß es in der Höhle eines Klosters am Jordan aufbewahrt worden sei. Im siebten Jahrhundert erzählte ein französischer Bischof namens Arculf, daß er das Tuch in Jerusalem gesehen habe.
Über sechshundert Jahre hindurch gab es keine verläßlichen Berichte mehr über die heilige Reliquie, bis 1204 ein Chronist des vierten Kreuzzuges, Robert de Clari, erklärte, daß sie sich in Konstantinopel befände. Nachdem die Kreuzfahrer jedoch diese große Stadt geplündert hatten, „wußte keiner, weder Grieche noch Franzose, was mit diesem Tuch geschehen war“.
1356 tauchte es wieder in Lirey, Frankreich, auf. Am 4. Dezember 1532 wurde das Leichentuch während eines Brandes in der Sakristei der Sainte Chapelle von Chambery in Mitleidenschaft gezogen. Das silberne Kästchen, in dem es aufbewahrt wurde, schmolz, und Tropfen des geschmolzenen Metalls fielen auf das zusammengefaltete Tuch und brannten tiefe, schwarze Narben in seine Oberfläche. Glücklicherweise wurden die Abdrücke nicht beschädigt.
Auf Befehl des Herzogs von Savoy wurde es 1578 vom Chambery nach Turin gebracht. Hier lag es während der nächsten fünfhundert Jahre.
Nach 1356 hielt man das Leichentuch in der Regel für eine Fälschung, für eine gekonnte Zeichnung eines unbekannten Michelangelo zur höheren Ehre Gottes. Erst im neunzehnten – später im zwanzigsten – Jahrhundert wurde die wahre Natur dieses Tuches dank der Erfindung besserer fotografischer Methoden bewiesen.
Das Leichentuch war schlicht und ergreifend genau das, für das man es gehalten hatte, nämlich das Leichentuch eines Märtyrers aus dem ersten Jahrhundert. Selbst eine flüchtige Untersuchung der anatomischen Details des Abdruckes mußte zu dem Ergebnis gelangen, daß kein auch noch so genialer Künstler des Mittelalters so genau hätte zeichnen
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