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Anarchy in the UKR

Anarchy in the UKR

Titel: Anarchy in the UKR Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serhij Zhadan
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langen Sommerabenden saßen sie da und unterhielten sich über ihre Dinge, aber über Krankheiten, daran kann ich mich gut erinnern, sprach niemand, die Gespräche waren laut, der Wein rot und schwer, die Abende endlos, über dem Tisch brannte eine helle Lampe, unter der Nachtfalter flogen, das Abendlicht verschwamm merkwürdig in der Luft – ich brauchte nur ein paar Schritte zur Seite zu treten, weg von der Lampe, und schon fiel ich in eine weiche Dämmerung wie in einen abgestandenen Tümpel, barg mich vollkommen darin und konnte auf den hell erleuchteten Tisch sehen, an dem meine Eltern mit dem Arzt saßen, ich flüchtete ins Haus, trat ans Klavier, öffnete den Deckel und betrachtete die Tasten, ich war unmusikalisch, meine ganze musikalische Erfahrung bestand ausschließlich im Betrachten der Tasten, zumindest weiß ich, daß es verschiedene gibt, weiße und schwarze, wenigstens das.
    Als ich schon etwas größer war und lesen konnte, lesen habe ich früh gelernt, und besonders viel zu lesen gab es nicht, da mußte mein Bruder ins Krankenhaus. Er hatte irgendeine Entzündung und wurde operiert. Meine Eltern besuchten ihn jeden Tag, und manchmal nahmen sie mich mit. Mein Bruder langweilte sich im Krankenhaus, er fand es öde, meine Eltern schleppten ständig einen Haufen zu essen und neue Bücher an. Während sie bei ihm saßen, schnappte ich mir die mitgebrachten Bücher, setzte mich auf das leere Nachbarbett und las sie schnell durch. Mein Bruder las nicht gern, er interessierte sich für Technik.
    Ich erinnere mich noch gut an unsere Kinderärztin, sie kam hin und wieder in die Schule, um uns zu impfen. Der Unterricht fiel aus, alles wurde für die Impfung vorbereitet, jeder versuchte sich irgendwie besonders hervorzutun, soll sie doch spritzen, so oft und wohin sie will, juckt mich doch nicht. Es juckte wirklich keinen, ich mochte die Ärztin nicht, ich verachtete sie offen, obwohl sie mich überaus freundlich behandelte, wie ich heute weiß. Einige Jahre später stritt sich ihr Sohn, ein totaler Lahmarsch, mit seinen Freunden, stahl seiner Mutter die Praxisschlüssel, ging in die Praxis und fraß einen Haufen verschiedener Pillen. Ihm wurde der Magen ausgepumpt, obwohl er nicht darum gebeten hatte. Ein anderes Mal hatte sich ihr Cousin mit jemandem gestritten und Insektenspray getrunken. Bei dem haben sie das Auspumpen gleich sein gelassen, die Rettungssanitäter fuhren vor, luden ihn ein und ab ins Leichenschauhaus. Da habe ich erst begriffen, warum ich Ärzte nicht mag, sie haben ständig den Tod an ihrer Seite, direkt neben sich, deshalb hält man sich besser von ihnen fern.
    Als Kind war ich selten krank, ich hatte auch keine Zeit dafür, ich war viel zu stark beansprucht von meinen Sachen, den Beziehungen zur mich umgebenden Welt und fand es einfach schade, die kostbare Zeit auf irgendwelchen Schwachsinn zu verschwenden. Aber in einem Winter fing ich mir eine schlimme Erkältung und wälzte mich einige Tage mit Fieber im Bett. In einem bestimmten Moment war das Fieber sogar kritisch, ich fing an zu phantasieren. Es war das erste Mal, daß ich phantasierte, vielleicht erinnere ich mich deshalb so gut daran. Von Zeit zu Zeit fiel ich in Schlaf und fiel von dort nach draußen, plötzlich sah ich meine eigene Welt vor mir, wie ich sie mir damals vorstellte, das Bild war grell und deutlich, später habe ich das Leben niemals mehr in dieser Deutlichkeit gesehen, später verschwamm es immer vor meinen Augen, aber damals sah ich plötzlich alles: Zu meiner Welt gehörten von der Sonne erleuchtete Städte, helle, mehrstöckige Häuser, Straßen, durch die gerade der Sprühwagen gefahren war, warmes Brot in den Geschäften, frische Milch und kaltes Grünzeug, feuchter Sand auf den Bahnübergängen, Pfützen auf den unbefestigten Straßen, auf denen die Laster unterwegs sind; ich sah die Städte von oben, ihre Fabriken und Bergwerke, die Rangierbahnhöfe mit den roten Güterwaggons und den ausgekühlten Dienstzimmern am Morgen, meine Städte waren durch Alleen verbunden, der Asphalt schmolz in der Sonne, und zu beiden Seiten wuchsen feuchte Kiefernwälder; weiter nach Süden nahmen die Bergwerke zu, das Leben wurde lauter, ich sah meine Freunde, wie sie morgens aus den Häusern kamen und in die Schule liefen, ich sah Fußballfelder, Taubenschwärme über den Fußballfeldern, noch weiter südlich begann das Meer, dort gab es viel Sand und Wasser, die Sonne blendete meine Augen, hinter dem Meer, ganz weit weg, sah

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