Anarchy in the UKR
Hauptmann ins Quartier, er selbst ging in den Stab saufen. Er wurde noch dürrer und verlor irgendwo seine Mütze. Einmal brachte er einen richtigen KGB-Typen an, für die politische Bildung. Den Typen vom KGB fanden alle zum Kotzen – er protzte rum, erzählte was vom Kampf gegen den inneren Feind, und anstatt von dem uns allen bekannten »Amerika« zu sprechen, sagte er mit so einer beknackten Aussprache »Junajted Stejts«. Der Hauptmann fand ihn ebenfalls zum Kotzen, er behandelte ihn betont kühl, verdammt, ich habe mir in Tschernobyl den Arsch aufgerissen, und du Wichser hast hier gegen den inneren Feind gekämpft, Junajted Stejts dich ins Knie. Zum ersten Mal empfand ich Achtung für den Hauptmann.
In dieser Nacht hatte ich Wachdienst. Ich sollte in ein paar Stunden abgelöst werden. Auf einmal ging die Tür zum Stab auf, und Hauptmann Kobylko trat heraus. Stehst du Wache? fragte er und kam näher. Ja, sagte ich und dachte, verdammt, was will der denn. Mitkommen, sagte er kurz und ging zurück in den Stab. Hilflos trabte ich hinter ihm her. Im Stab lag der total zugelötete KGB-Typ. Auf dem Tisch stand Wodka. Der Hauptmann nahm einen Alubecher und goß ein. Hier, Kumpel, trink. Ich trank. Fertig? fragte er, fertig, sagte ich, dann scher dich weg. Ich haute ab. Okay, dachte ich, der Typ, Hauptmann Kobylko, ist in Ordnung, wenn auch durchgeknallt.
Am letzten Tag des Wehrlagers führte uns der Hauptmann auf den Truppenübungsplatz. Achtung, sagte er, hier, ihr Idioten, jeder hat eine Kalaschnikow und zwei Magazine mit scharfer Munition, verdammt. Los geht’s. Wir schmissen uns ins Gras und fingen an, auf die Zielscheiben zu schießen, die in fünfzig Meter Entfernung standen. Ich zielte und gab mir Mühe, keine Patronen zu verschwenden. Der Hauptmann stand über mir und beobachtete mit dem Fernglas meine Treffer. Nicht schlecht, rief er mir zu, nicht schlecht, und jetzt Dauerfeuer, los! Schade um die Patronen, antwortete ich ihm, ich glaub, ich schieß daneben. Ach komm, der Hauptmann wurde wütend, los, Dauerfeuer, hau drauf! Ich blickte ihn von unten an – er stand entschlossen und erwartungsvoll, plötzlich verstand ich, was er von mir wollte, schweigend schaltete ich das Gewehr von Einzelschuß auf Dauerfeuer und gab den ersten Feuerstoß ab. Los, rief der Hauptmann mir zu, los, schieß! Ich preßte den Kolben an die Brust und verschoß den Rest des Magazins, legte das nächste ein und verschoß das zweite ebenso schnell, ich hielt auf die Scheibe, beinahe ohne zu zielen, ich wollte ihm einen Gefallen tun, ich haute einfach die Patronen raus – in die Luft, in den Sand, auf die Zielscheibe und traf alle hundert, ich erschoß alle Geister meiner Jugend, die vor mir in der Juniluft standen, schoß mit langen Feuerstößen für jeden einzelnen dieser im Wehrlager verlorenen Tage, für meine Bilder und Gewissensbisse, für meinen Hauptmann, der über mir stand und wie gebannt auf die kugeldurchlöcherten Zielscheiben blickte. Ringsum wucherte Wolfsmilch, die Vögel kreisten verschreckt am bleichen Himmel, die Patronen gingen zu Ende, die Hülsen waren heiß, die Lippen trocken, der Sommer endlos.
1990 Dächer.
Ich bekam einen Ast zu fassen und zog mich hoch. Der Stamm war hart und kalt. Als ich den Ast umklammert hatte, kletterte ich hinauf. Ich griff nach dem nächsten Ast, schwang mein Bein darüber und zog mich wieder hoch, mit der Hand reichte ich schon an das Dach heran. Vorsichtig stellte ich mich hin, ich spürte, wie sich der Ast unter meinen Beinen bog, er bog sich, aber er hielt, ich stützte mich mit den Armen auf das Dach, zog mich noch einmal hoch und rollte über die gerade Fläche. Vorsichtig stand ich auf und lief geradeaus, fast ohne hinzusehen. Der Himmel war bewölkt, genau so, wie ich es brauchte. Hauptsache daran denken, daß ich nicht ganz nüchtern bin und mich auf einem Dach befinde, daß ich vorsichtig und leise auftreten muß, denn wenn mich unten jemand hört, holen sie mich runter und nehmen mich gleich mit aufs Revier. Dann kam eine Mauer, ich sprang hoch und versuchte mich am oberen Ende festzuklammern, rutschte aber ab und fiel auf den Rücken, Scheiße, dachte ich, das fehlte gerade noch, hier im Suff den Abgang zu machen. Ich stand auf, das Knie brannte, ich sprang noch einmal hoch. Zog mich mit den Armen hinauf und kroch auf den Dachvorsprung. Langsam kletterte ich nach oben, stand auf und trat vorsichtig an den Rand, ich mußte ungefähr zwanzig Meter zurücklegen, gut,
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