Anarchy in the UKR
überwintern, an Spielautomaten zu sitzen und Bargeld zu verzocken, sich mit billigem Kognak aus dem Spätverkauf im Erdgeschoß die Kante zu geben, Freunde anzuschleppen, mit ihnen die Sauna im Innenhof oder die Nutten zu besuchen, langsam alt zu werden und eines Tages zu sterben, den Körper nach dem letzten Willen im alten Hotelbau, Zimmer 710, begraben, in die Wand einmauern und die Kleidung verbrennen zu lassen, die Wertsachen an die Nutten zu verteilen, den Fernseher an die Rezeption zurückzuschicken, und das war’s dann, Schluß, aus.
Der Tod im Hotel läßt sich auf eine einfache und asketische Formel bringen: Du bist nicht an einen bestimmten Ort gebunden, du hängst im Leben fest und tauschst unverzichtbare Informationen mit ihm aus, du hinterläßt ihm deine Kontaktdaten, die es nicht überprüfen kann, es hinterläßt dir den Schlüssel und frische Handtücher in der Dusche. Niemand ist irgendwem etwas schuldig.
In den Hotelzimmern lassen sich Leichen gut verstecken, hier, im Altbau, gibt es so viele Zimmer, und sie sehen alle so gleich aus, daß die Direktion sich mächtig Mühe geben muß, um die Spuren der Verbrecher und Brudermörder zu erschnüffeln, einen abgerissenen Finger neben der Fernbedienung oder kleine Goldkronen im Toilettenbecken ausfindig zu machen. Außerdem kann man sich hier auch gut vor Feinden in Sicherheit bringen, sie geben es einfach auf, dich hinter dieser irrsinnigen Menge von Türen, in all den Bistros und Büros, in dem kalten Hotelkorpus zu suchen, der an die fernen Fünfziger erinnert, rote Fahnentücher und Porträts von Koba an der Fassade, Panzer, die am Tag des Sieges (das war doch der Tag des Sieges, oder nicht?) über den Platz rollten, noch gar nicht lange her, in den Neunzigern, dann hinter dem Gosprom verschwanden und sich in den Fenstern der Rezeption spiegelten. Kurz, ich mag dieses Hotel sehr. Einmal habe ich die total zugedröhnten Braty Hadjukiny durch den Hintereingang geschleust, ein andermal nachts die Wache überredet, ein paar deutsche Dichter, die ich nur flüchtig kannte, zum Übernachten reinzulassen, einmal habe ich auch ein Fernsehinterview zum Jahrestag der Befreiung Charkiws von den deutschen Truppen gegeben, wir gingen den Bistroangestellten damals ziemlich auf den Geist, wir hatten uns auf dem Balkon niedergelassen, direkt über dem Haupteingang, mit Blick auf die Universität, und fingen an, über die Befreiung zu sprechen, Befreiung, was für ein Schwachsinn, hab ich gesagt, was für eine Befreiung denn, viel interessanter wäre es, über die Okkupation zu sprechen, darüber, daß genau hier, auf diesem Platz, wo gerade die lächerliche Landwirtschaftsausstellung läuft, seinerzeit ein Flugzeug landete, mit Hitler persönlich, warum redet darüber keiner? Gegen Morgen, so zwischen vier und fünf Uhr, sitzen an der Bar im Erdgeschoß die schläfrigen Nutten und lassen sich traurig mit Wodka vollaufen.
Seit ein paar Tagen tummeln sich die Volksmassen im Hotel, die der revolutionäre Ausbruch übermütig gemacht hat, ein merkwürdiges, meist angetrunkenes Publikum, das sich vom Morgen an auf dem Majdan herumtreibt, entweder für die Orangen ist oder für die Blauen, aber schnell anfängt zu frieren und ins Hotel kommt, sich aufwärmen, in den Bistros was bestellt oder an den Spielautomaten sitzt. Die Bullen schauen unbeteiligt zu. Wenn du den Altbau betrittst, stolperst du über die erschöpften, durchgefrorenen Gestalten, eine Revolution, selbst eine soft Version wie die hier, versammelt unter ihren verschiedenfarbigen Bannern trotzdem den interessantesten Teil der Gesellschaft, man könnte meinen, ganze Heerscharen von Verrückten und Aussätzigen, Erniedrigten und Beleidigten hätten nur auf diesen denkwürdigen Tag gewartet, um endlich auf den gigantischen, einige Hektar großen Platz zu ziehen und sich gegenseitig von Kopf bis Fuß zu vermöbeln. Der revolutionäre Ausbruch hindert dieses Publikum im übrigen nicht daran, sich zuerst vor unseren Zelten heiser zu schreien, um sich dann hierher ins Hotel zu schleppen, in die Foyer-Sessel zu fallen, auf den Treppen zwischen Erdgeschoß und zweitem Stock herumzulümmeln, die Barhocker in Beschlag zu nehmen und mit dem Fahrstuhl spazierenzufahren, so daß das Personal Probleme bekommt und die ohnehin spärlichen Gäste des Altbaus Schiß kriegen.
Wie in einer richtigen revolutionären Situation kommen die Leute erstaunlich gut miteinander aus, sogar die Schlägereien haben etwas
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