Anastasija 01 - Auf fremdem Terrain
Innentasche auf. Gott sei dank, ihr Ausweis war noch da, und zwar genau so, wie sie ihn immer hineinsteckte.
Sie schob die Tasche zurück, dann streckte sie langsam und vorsichtig die Beine aus und lehnte sich mit dem Rücken ans Bett. Sie mußte nachdenken.
* * *
In Zimmer 240 saßen drei Männer beim Kognak zusammen.
Einer von ihnen, Kol ja Alferow aus Moskau, war in die ›Doline‹ gekommen, um nach einem Autounfall die Folgen eines Knochenbruchs behandeln zu lassen. Er arbeitete als Chauffeur, fuhr den Mercedes des Direktors einer Aktiengesellschaft. Kolja war ein grundsätzlich korrekter Fahrer, ihn traf keine Schuld an dem Unfall, und er hatte für den Schaden nicht aufzukommen. Aber sein gebrochener Arm wuchs nicht richtig zusammen, es war zu irgendwelchen Komplikationen gekommen, und der Arzt hatte Alferow geraten, in ein Sanatorium zu fahren, und zwar konkret in die ›Doline‹, wo Knochenbrüche und Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparats mit großem Erfolg behandelt wurden.
Der kleine, hagere, durchtrainierte Kolja hatte trotz seines recht unansehnlichen Äußeren nicht gerade unter mangelnder Aufmerksamkeit seitens des weiblichen Geschlechts zu leiden. Schon als Junge hatte er immer Sport getrieben, hatte an Fahrradrennen teilgenommen, war monatelang in irgendwelchen Sportcamps und Trainingslagern gewesen und hatte die Gesellschaft junger Mädchen in einem solchen Maße ausgekostet, daß er ihnen, als er um die zwanzig war, keine große Aufmerksamkeit mehr schenkte. Ältere Frauen begannen ihn zu interessieren. Sie kamen ihm klüger vor, sie waren gelassener, erfahrener, konnten gut kochen und wußten eine behagliche Atmosphäre zu schaffen, vor allem wollten sie nicht immer gleich heiraten. Schauten einem die jungen Mädchen ins Gesicht, so schätzten die reiferen Damen ausschließlich seinen ausdauernden Körper, sie achteten weder auf Koljas zerschlagene Nase noch auf seine frühe Glatze oder auf seinen kleinen Wuchs.
Der zweite von Zimmer 240 war das genaue Gegenteil. Pawel Dobrynin lebte und arbeitete in der benachbarten Stadt, in die ›Doline‹ kam er hauptsächlich, um sich zu amüsieren. Hier war es nicht weniger komfortabel als in Dagomys, dafür aber billiger. Daß die Frauen hier, den Preisen entsprechend, weniger edel waren, machte Pawel nichts aus: Ausgezogen sind sie alle gleich, dachte er zynisch. Davon hatte er sich mit seinen dreißig Jahren schon oft überzeugt. Nebenbei kurierte er im Sanatorium sein Bein, das er sich vor einigen Jahren einmal gebrochen hatte, als er im Vollsuff wegen einer Wette auf fremden Skiern den Berg hinuntergerauscht war, ohne vorher die Bindung einzustellen. Der Skischuh war im entscheidenden Moment nicht aus der Bindung gesprungen, und seitdem hinkte Dobrynin leicht, wenn das Wetter umschlug.
Was Shenja Schachnowitsch, ihr neuer Bekannter, ihnen da vorschlug, klang total verrückt, aber darum nur um so reizvoller. Um Frauen wetten! Wahnsinn! Und es gab hier so viele, daß es für Dobrynin, den großen schlanken Schönen, von dem die Weiber immer hin und weg waren, ein Leichtes sein würde, als Millionär abzureisen.
»Ich bin kein Sadist«, meinte Shenja und biß genüßlich in ein Räucherwurst-Sandwich. »Ich bestehe nicht darauf, daß ihr sie gleich ins Bett schleift. Eine Frau zu erobern heißt, ihr Einverständnis zu bekommen. Mehr nicht. Ob ihr dieses Einverständnis ausnutzt oder nicht, ist eure Sache. Wonach euch eben gerade ist. Bedingung für die Wette ist, daß die Dame nicht weniger als sechs Stunden mit euch zusammen ist und euch auf ihr Zimmer mitnimmt, wo sie mit euch allein ist. Mehr wird nicht verlangt.«
»Das soll alles sein?« fragte Pawel herablassend.
»Glaub‘ nicht, daß das so einfach wird. Eine Frau dazu zu bringen, sich sechs Stunden lang mit dir zu unterhalten, ohne daß ihr langweilig wird und sie dich zum Teufel jagt – das ist wie eine Wagenladung Kohle schippen. Probier es aus, dann wirst du es schon merken. Wenn es so leicht wäre, würde ich nicht um Geld wetten. Die Damen wollen unterhalten sein, kapiert?«
»Und wie wollen wir das kontrollieren?« fragte Alferow, der bei allem und jedem Betrug witterte, argwöhnisch.
»Gute Frage.« Shenja nickte beipflichtend, während er Kognak nachschenkte. »Zur Kontrolle schlage ich vor, daß ihr alles berichtet, was ihr von euren Partnerinnen erfahren habt. Und damit keiner auf die Idee kommt, etwas zu erfinden, laßt ihr euch erzählen, wie sie ihre Zeit
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