Anastasija 01 - Auf fremdem Terrain
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Hätte sie den Blonden von vorhin vielleicht besser nicht abblitzen lassen? Womöglich hatte gerade er ihre stille Schönheit entdeckt und ihr wirklich ohne jeden Hintergedanken den Hof gemacht? Zumal das Lächeln, mit dem sie ihn geblendet hatte, ja wirklich etwas hermachte. Mühe hatte sie sich schon gegeben. Und das Alter? Er war so um die fünfundzwanzig, siebenundzwanzig und sie dreiunddreißig – aber im Sportdress und die Haare zum Pferdeschwanz gebunden, sah sie um einiges jünger aus. Wahrscheinlich hätte sie ihn ein bißchen sanfter anfassen sollen. Doch andererseits . . . Jemand hatte ihr Zimmer durchsucht, und zwar exakt zu dem Zeitpunkt, als der in der Bar um sie herumscharwenzelte. Es dürfte kaum passiert sein, während sie im Behandlungstrakt war und nach ihrer Uhr suchte. Nastja wußte noch genau, daß sie, bevor sie in die Bar gegangen war, im Wörterbuch ein Wort nachgeschlagen und den länglichen rechteckigen Radiergummi direkt auf die Zeile gelegt hatte, um später noch einmal zu diesem Wort zurückzugehen. Und als sie das Zimmer später genau kontrollierte, hatte das Merkzeichen genauso akkurat dagelegen, exakt auf Zeile, nur auf einer anderen Zeile, ein Stück tiefer. Darüber stand ein Homonym: identisch geschrieben, aber mit völlig anderer Bedeutung.
Wie waren sie wohl ins Zimmer gekommen, durch die Tür oder über den Balkon? Morgen früh mußte sie Regina Arkadjewna fragen, vielleicht hatte sie etwas gehört? Nein, beschloß Nastja, sie mußte das alles aus ihrem Kopf vertreiben und sich entspannen. Zu klauen gab es bei ihr nichts, interessant konnte sie auch für niemanden sein, und außerdem war es die Sache nicht wert, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.
Dies war das zweite, worin sie sich täuschte.
Kapitel 3
TAG VIER
Beim Aufwachen beschloß Nastja, ein neues Leben anzufangen und gleich einmal in der Praxis jene Theorie zu testen, wonach angeblich das Sein das Bewußtsein bestimme. Sie hatte gehört, daß Schauspieler manchmal so in ihre Rolle schlüpfen, daß sie anfangen, wie die von ihnen dargestellte Figur zu denken und zu fühlen. Ich probiere jetzt, eine FRAU zu sein, dachte sie, vielleicht schmilzt so ja wenigstens ein bißchen das Eis, das mich innerlich so frieren läßt, das mein Herz so erstarrt hat.
Sie machte sich zum Frühstück fertig, indem sie ihre hellen Brauen nachzog und die Wimpern tuschte, ein wenig Lippenstift auftrug, ein grelles T-Shirt anzog und darüber – nicht die Jacke ihres Jogginganzugs, sondern ein langes schwarzes Jacket, über dem das offene helle Haar beinah platinfarben wirkte. Sie drehte den Parfumflakon ›Klima‹ ein paar Mal in der Hand, stellte ihn aber wieder zurück: Irgendwo hatte sie gelesen, daß Parfum vor dem Frühstück nicht zum guten Ton gehöre.
Als sie in den Speisesaal ging, achtete sie genau auf ihren Gang und ihre Haltung, und dabei kam eine freudige Erregung in ihr auf. Das Mittel schien zu wirken.
Als sie die Tasche fürs Schwimmbad packte und gerade den Badeanzug vom Haken im Bad nahm, hielt sie kurz inne und hängte ihn entschlossen wieder zurück. Ich muß konsequent sein, tadelte Nastja sich selbst und nahm statt dessen ihren neuen, überaus gewagten Badeanzug, den ihr ihre Mutter schon letztes Jahr aus Schweden geschickt hatte und den sie seither noch nicht einmal getragen hatte. Wenn ich mir schon einen erotischen Gang antrainieren will, dann muß ich auch entsprechend aussehen.
Beim Anprobieren des Badeanzugs kamen Nastja erneut Zweifel: Sie sah darin aus wie ein Girl aus den Männermagazinen. Aber einerlei, im Schwimmbad war nach elf Uhr außer ihr sowieso keiner mehr, sie machte die Gymnastik immer ganz allein. Die meisten Kurgäste gingen entweder morgens schwimmen oder zwischen fünf und sieben Uhr abends. Zwischen elf Uhr und dem Mittagessen war die ›tote‹ Zeit, und genau darum hatte Nastja sie sich für ihr tägliches Training ausgesucht.
Gewissenhaft absolvierte sie im Becken all ihre Übungen, schwamm ihre vorgeschriebene Anzahl Bahnen und fing dann mit dem Herumaffen an. Die Stufen hochsteigen, sich auf den Rand setzen, zur anderen Seite hinübergehen, sich ins Wasser gleiten lassen, im Wasser zur gegenüberliegenden Treppe laufen – und nochmal das gleiche. Die Bewegungen sollten graziös sein, weich und erregend, als beobachte sie der tollste Mann der Welt, es sollte ihm unbedingt gefallen und den Wunsch in ihm entfachen, sich auf der Stelle und dauerhaft in sie zu verlieben. Ganz
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