Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
Neugier zu tun. Ich habe einen bestimmten Auftrag bekommen, und die Hintergründe dieser ganzen Angelegenheit interessieren mich wenig. Ich werde nur dafür bezahlt, dass ich meinen Auftrag erfülle. Aber um ihn erfüllen zu können, brauche ich einige Informationen. Hatten Sie Feinde im Lager?«
»Das tut nichts zur Sache«, entgegnete er ungerührt.
»Doch, das tut sehr wohl etwas zur Sache. Ich bitte Sie, mir zu antworten.«
»Gut. Ich hatte keine Feinde.«
»So etwas gibt es nicht. Sie sagen mir die Unwahrheit, und ich wüsste gern, warum Sie das tun.«
Er wandte sich um, aber er sah sie nicht an, sein Blick war irgendwo über ihrem Kopf.
»Was möchten Sie denn nun wissen? Ob ich im Lager Feinde hatte oder warum ich die Unwahrheit sage?«
»Beides. Ich kenne das Lager und weiß, dass jeder Häftling dort Feinde hat.«
»Woher wollen Sie das denn wissen? Hatten Sie etwa auch schon das Vergnügen?«
»Ja, hatte ich. Verstehen Sie doch, Pawel, Ihre Lüge behindert mich in meiner Arbeit.«
»Und weswegen haben Sie gesessen, wenn man fragen darf?«
»Man darf. Wegen Betrug. Sinke ich dadurch in Ihrem Ansehen? Sind Sie der Meinung, dass eine Betrügerin heutzutage nicht mehr in die Falle gehen darf, weil sie sonst eine schlechte Betrügerin ist?«
»Sie legen mir Dinge in den Mund, die ich nicht gesagt habe.«
»Gut«, seufzte Nastja. »Einigen wir uns darauf, dass ich damals einen Fehler gemacht habe. Aber das ist lange her. Können Sie sich wenigstens in etwa vorstellen, wer hinter Ihnen her ist?«
»Nein.«
»Sie lügen schon wieder, Pawel.«
»Natürlich. Hören Sie, Ihre Aufgabe ist es, mich nach Moskau zu bringen. Machen Sie Ihre Arbeit, und lassen Sie mich in Ruhe.«
Er drehte sich wieder um und sah aus dem Fenster. Nastja fühlte Wut in sich aufsteigen, aber sie beherrschte sich. Sie setzte sich in den Sessel und steckte sich eine Zigarette an. Sie hätte sehr gern noch eine Tasse Kaffee getrunken, aber zu ihrem Bedauern stellte sie fest, dass das Wasser im Samowar bereits kalt geworden war.
***
Nastja erinnerte sich noch gut an dieses Hotel. Sie war Mitte der achtziger Jahre einige Male hier gewesen, als Samara noch Kujbyschew hieß. Innerhalb der letzten zehn Jahre hatte sich hier alles verändert. Das Hotel hatte jetzt einen privaten Besitzer, die Zimmer waren sauberer und gemütlicher geworden, und das Restaurant, das früher einem Bahnhofsimbiss geglichen hatte, war jetzt wirklich ein Restaurant. Mit dem Personal hatte sie natürlich gleich nach ihrer Ankunft Bekanntschaft geschlossen, und während der letzten zwei Tage, in denen sie hier Frühstück, Mittag- und Abendessen eingenommen hatte, war es ihr bereits gelungen, sich einen entsprechenden Ruf zu verschaffen. Sie war die verrückte Millionärin.
Kaum hatten sie durch die Glastür den Raum betreten, in dem das Mittagessen serviert wurde, stürzte Hermann Valerjanowitsch, der Oberkellner, auf sie zu, ein kleiner, untersetzter Mann mit höchst würdevollem Benehmen.
»Guten Tag, guten Tag«, murmelte er, während er mit seinen kurzen Beinchen vor ihnen hertrippelte und ihnen den Weg zum besten Tisch im Restaurant wies. »Hier ist Ihr Tisch, bitte sehr, alles wie befohlen.«
Er rückte Nastja den Stuhl zurecht und wartete, bis beide Platz genommen hatten. Auf dem Tisch stand eine Vase mit einem riesigen Strauß rosafarbener Nelken. Auf keinem der anderen Tische befand sich ein solcher Strauß.
»Mögen Sie Nelken?«, fragte Nastja Pawel.
»Nein.«
»Ich auch nicht. Besonders rosafarbene Nelken kann ich nicht ausstehen.«
»Dann lassen Sie sie doch wegbringen.«
»Nein, auf keinen Fall. Ich habe gestern ausdrücklich darum gebeten, dass man mir rosafarbene Nelken auf den Tisch stellt.«
»Warum?«
Mit Genugtuung bemerkte Nastja, dass in seiner Stimme ein schlecht verhohlenes Erstaunen schwang. So unzugänglich bist du also gar nicht, Pawel Dmitrijewitsch, dachte sie. Du bist zwar anders als andere, aber auch dich kann man irritieren, auch du bist letztlich zu kriegen.
»Darum. Negative Reize tragen dazu bei, dass man in Form bleibt. Warum sitzen Sie denn tatenlos da? Nehmen Sie die Speisekarte und suchen Sie sich etwas aus.«
»Ich bin nicht hungrig.«
»Sie lügen schon wieder. Es kann überhaupt nicht sein, dass Sie nicht hungrig sind.«
»Ich habe Ihnen gesagt. . .«
»Schon gut, schon gut«, unterbrach ihn Nastja. »Sie sind nicht hungrig, ich habe verstanden. Aber da wir uns darauf geeinigt haben, dass Sie machen
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