Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
sie sich getrennt haben. Stattdessen gibst du dich irgendwelchen Hirngespinsten darüber hin, wie wir sie benutzen könnten. Wir brauchen diese Frau nicht, hast du das verstanden mit deinem Spatzenhirn? Wir müssen Pawel zum Schweigen bringen. Das ist alles.«
»Ist gut, Grigorij Valentinowitsch.«
* * *
Die Zeit bis zum Abendessen verbrachten sie im Appartement, ohne ein einziges Wort miteinander zu wechseln. Nastja lag auf dem Sofa im Salon und starrte zur Decke, Pawel war im Schlafzimmer. Was er dort so lange machte, wusste Nastja nicht. Um sieben Uhr erhob sie sich und öffnete, ohne anzuklopfen, die Schlafzimmertür. Sauljak stand am Fenster und beobachtete aufmerksam die Straße, obwohl es bereits dunkel war. Was gab es dort unten zu sehen?
»Es wird Zeit, ins Restaurant zu gehen«, sagte Nastja kalt.
»Sie haben einen außergewöhnlich guten Appetit«, grinste Pawel.
»Und Sie wollen immer noch nichts essen?«
»Ich habe keinen Hunger.«
»Hören Sie auf, mich für dumm zu verkaufen«, sagte Nastja mit müder Stimme. »Wenn Sie den Helden spielen wollen, der wochenlang ohne Essen und Trinken auskommen kann – bitte sehr. Es darf nur unserer gemeinsamen Sache nicht schaden. Ich möchte Sie in Ruhe bis nach Moskau bringen. Dort können Sie dann meinetwegen hungern bis zum Jüngsten Tag.«
»Apropos gemeinsame Sache . . . Wie haben Sie sich eigentlich meinen Flug nach Jekaterinburg vorgestellt? Wie soll das gehen ohne Pass?«
»Kein Problem. Wir werden Ihre Entlassungsbescheinigung vorlegen.«
»Dann könnten Sie mir genauso gut ein Schild mit meinem Namen um den Hals hängen. Sie hatten vor, mich heil und lebendig nach Moskau zu bringen. Oder habe ich da etwas falsch verstanden?«
»Es geht Sie nichts an, was ich vorhabe«, erwiderte Nastja barsch. »Wir werden die Entlassungsbescheinigung vorlegen und basta. Ich habe Ihre Mätzchen satt. Ich werde schließlich für meine Arbeit bezahlt und nicht dafür, Ihre Launen zu ertragen. Im Übrigen habe ich, um Sie heil und lebendig nach Moskau zu bringen, eine Rolle abgelehnt, die ich schon sehr lange spielen wollte. Aber ich glaube, Sie sind so ein Opfer gar nicht wert.«
»Sie haben eine Rolle abgelehnt? Sind Sie Schauspielerin?«
»Ja, stellen Sie sich das vor. Nicht genug, dass ich eine Kriminelle bin, ich bin auch noch Schauspielerin.«
»Und ich dachte, Sie sind Privatdetektivin oder etwas in dieser Art.«
»Sieh einer an, Hunger scheint sich günstig auf die Gehirntätigkeit auszuwirken. Sie denken also. Ich denke auch, Pawel Sauljak, aber ich denke, zum Teufel, nur daran, wie ich Ihre Verfolger austricksen und verhindern kann, dass man Sie umbringt. Und es wäre nicht schlecht, wenn auch Sie daran denken würden, anstatt sich Gedanken über meine traurige Biographie zu machen. Nehmen Sie übrigens zur Kenntnis, dass ich in meinen Papieren Ihren Namen trage.«
»Warum? Wozu soll das gut sein?«
»Das können Sie selbst herausfinden. Würden Sie jetzt bitte aus dem Zimmer gehen, ich muss mich umziehen.«
Pawel ging hinaus. Nastja zog schnell Hose und Pullover aus, holte aus dem Schrank eine Strumpfhose, einen Minirock und ein Shirt mit einem tiefen Ausschnitt. In dieser Aufmachung sah sie aus wie eine billige Nutte, aber es nutzte nichts, damit musste sie sich abfinden. Sie stellte sich vor den Spiegel und fügte ihrem bisher dezenten Make-up einige grelle, aufdringliche Töne hinzu.
Hermann Valerjanowitsch war sofort zur Stelle, als sie die Schwelle des Restaurants überschritten. Abends waren hier andere Gäste anzutreffen als mittags. Neben den Hotelgästen, die einfach nur zum Abendessen heruntergekommen waren, trieb sich jetzt alles mögliche Volk hier herum. Geschäftemacher, Hochstapler, Prostituierte. Es war nur ein gedämpftes Stimmengewirr zu hören, aber um acht Uhr würde eine Band zu spielen beginnen, und dann würde man sich nicht mehr retten können vor Krach und Tumult.
Nastja nahm die Speisekarte von der Kellnerin entgegen und streckte sie Pawel hin.
»Suchen Sie etwas für uns beide aus, seien Sie so nett.«
»Aber ich weiß doch nicht, was Ihnen schmeckt«, widersprach er und versuchte, ihr die Speisekarte zurückzugeben.
»Und ich weiß nicht, was Ihnen schmeckt. Machen Sie bitte keine Umstände. Ich dachte, wir hätten uns geeinigt.«
Die Kellnerin stand abwartend neben ihnen, mit Notizblock und Bleistift in der Hand, und Nastja dachte mit Schadenfreude, dass Sauljak in der Falle saß. In Anwesenheit der Kellnerin
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