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Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers

Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers

Titel: Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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werden, was ich sage, möchte ich Sie bitten, sich etwas zu essen zu bestellen.«
    »Dann suchen Sie etwas für mich aus.«
    »Was trinken Sie?«
    »Nichts.«
    »Gar nichts?«
    »Nein, gar nichts.«
    »Gut, dann also Campari.«
    Sie hatte diesen Tisch vor zwei Tagen absichtlich ausgewählt. Von ihrem Platz aus konnte sie das ganze Restaurant überblicken, durch die beiden Glastüren hatte sie die Hotelhalle und die Diensträume im Auge. Um Punkt zwei Uhr erschien Jura Korotkow und setzte sich an den Tisch, an dem er bereits von Anfang an seinen Platz eingenommen hatte. Alles das gehörte zur Inszenierung. Seine Augen wanderten aufmerksam durch den Raum und entdeckten Nastja. Er erhob sich von seinem Stuhl und machte eine kleine Verbeugung in ihre Richtung. Nastja murmelte etwas und zuckte demonstrativ mit den Schultern.
    Die Kellnerin brachte die Vorspeise und eine Flasche Campari.
    »Essen Sie«, sagte Nastja. »Es wird nicht so schnell wieder etwas geben. Probieren Sie, es schmeckt gut.«
    Sauljak schnitt träge ein Stück von der Rinderzunge ab und schob es sich in den Mund. Sein Gesichtsausdruck war völlig leidenschaftslos, es sah nicht so aus, als würde er gewaltsam seinen Appetit unterdrücken, weil er sich von einer fremden Frau nicht zum Essen einladen lassen wollte. Es schien, als hätte er wirklich keinen Hunger.
    An ihrem Tisch erschien wieder der beflissene Hermann Valerjanowitsch, diesmal mit einer Flasche französischem Champagner in der Hand.
    »Ihr Verehrer ist eingetroffen«, teilte er mit einem verschwörerischen Lächeln mit. »Er möchte Sie zu dieser Flasche Champagner einladen.«
    »Gibt er es immer noch nicht auf?«, sagte Nastja unmutig und so laut, dass man es im ganzen Restaurant hören konnte.
    Sauljak saß bewegungslos auf seinem Stuhl, er warf keinen einzigen Blick in die Richtung, in die Nastja jetzt sah. Sie erhob sich, nahm die Flasche in die Hand und ging langsamen Schrittes durch das ganze Restaurant, zu dem Tisch, an dem Korotkow saß. Sämtliche Augen der etwa dreißig Gäste folgten der großen, sehr schlanken Frau, die sich geschmeidig durch die Tischreihen bewegte.
    Nachdem sie Korotkows Tisch erreicht hatte, stellte sie die Flasche so schwungvoll vor ihn hin, dass das Geschirr aufklirrte.
    »Ich trinke keinen Champagner«, sagte sie laut. »Bitte bestellen Sie keinen mehr für mich. Haben Sie verstanden?«
    »Was trinken Sie denn?«, fragte Korotkow ebenso laut und hörbar. »Womit könnte ich Ihnen wenigstens eine kleine Freude bereiten?«
    »Wenn Sie wollen, dürfen Sie mich küssen, jetzt gleich und hier, aber nur ein einziges Mal. Unter der Bedingung, dass Sie mich danach für immer in Ruhe lassen.«
    »Du Miststück«, zischte Korotkow leise, während er die Lippen zu einem Lächeln verzog.
    Nastja begriff sofort, was er meinte. Er war nur wenig kleiner als sie, aber die hohen Schuhe, die sie trug, schufen einen deutlichen Größenunterschied zwischen ihnen. Sie grinste, bückte sich, wissend, dass das gesamte Restaurant sie beobachtete, zog ihre Schuhe aus und war sofort auf fast gleicher Höhe mit Korotkow, der Winterschuhe mit einer dicken Sohle trug. Er machte einen Schritt auf sie zu, legte einen Arm um sie, und sein Gesicht näherte sich langsam dem ihren. Seine Lippen waren hart und kühl und trotz der peinlichen Zweideutigkeit der Situation (oder ihrer zweideutigen Peinlichkeit?) konnte Nastja nicht leugnen, dass Jura gut küsste. Sie kannten sich seit Jahren, sie arbeiteten in einer Abteilung, Korotkow war oft zu Gast bei Nastja und Alexej und weinte sich bei ihr aus, wenn er Liebeskummer hatte. Und jetzt, weit entfernt von Moskau, im Restaurant eines Provinzhotels, küssten sie sich unter den Augen der verblüfften Hotelgäste, weil jemand hinter einem entlassenen Häftling her war. Unerforschlich waren die Wege des Polizistendaseins!
    Korotkow löste sich von ihren Lippen, küsste ihr galant die Hand und setzte sich wieder auf seinen Platz. Nastja schlüpfte wieder in ihre Schuhe mit dem sieben Zentimeter hohen Absatz, lächelte berückend und kehrte an ihren Tisch zurück.
    Sauljak saß nach wie vor bewegungslos da, spielte mit einer kleinen Dessertgabel und sah sie unverwandt an. Nastja warf einen Blick auf seinen Teller. Außer dem Stück Zunge hatte er offenbar nichts mehr gegessen.
    »Hören Sie, Pawel, Sie haben sicher Gründe für Ihre Zurückhaltung, aber Sie müssen etwas essen. Das, was uns bevorsteht, wird alles andere als ein kleiner Spaziergang

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