Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
und die Preise steigen ständig . . .«
»Eine wirklich Schwindel erregende Neuigkeit«, brummte Alexander Petrowitsch. »Denken die in Murmansk etwa, dass man in Moskau noch im real existierenden Sozialismus lebt, dass die Preise dort nicht steigen und die Bananen immer noch zwei Rubel das Kilo kosten? Die Preise steigen überall. Wozu erzählt sie uns das?«
Pawel nickte stumm. Beim ersten Mal hatte er dem alten Mann zu erklären versucht, worum es den Anrufern ging. Sie wollten sich ausdrücken, bemerkt werden, sie langweilten sich, und sie waren nicht besonders intelligent. Alexander Petrowitsch hatte ihm damals zugestimmt, aber letztlich konnte er sich offenbar nicht damit abfinden, dass es Menschen gab, die anders dachten als er. Wenn er mit seinen zweiundsiebzig Jahren verstand, was eine interessante Neuigkeit von einer uninteressanten unterschied, warum verstanden es dann andere nicht?
»Hallo!«, rief der Moderator erneut, seine Stimme klang etwas gereizt. »Sprechen Sie, Sie sind auf Sendung.«
»Heute ist in Moskau etwas Amüsantes passiert«, hörte man eine wohlklingende Männerstimme sagen. »In die Straßenbahn der Linie 27 sprangen plötzlich zwei herrenlose, dressierte Pudel. Ohne jedes Kommando führten sie den Fahrgästen alle möglichen, sehr komplizierten Kunststücke vor, und das auf einer Strecke von drei Haltestellen. Zum Schluss stellten sie sich aufrecht auf die Hinterbeine und spazierten so durch den ganzen Wagen, von der vorderen bis zur hinteren, Tür. An ihren Halsbändern waren kleine Säckchen befestigt, und die belustigten Fahrgäste belohnten die Vorführung großzügig mit Geldspenden. An der Sobolewskij-Straße sprangen die Pudel wieder aus dem Wagen, ich konnte durch das Fenster sehen, wie sie die Straße überquerten und sich an der gegenüberliegenden Haltestelle platzierten. Offenbar wollten sie zurückfahren in Richtung Timirjasew-Akademie.«
»Unglaublich!«, kreischte der langhaarige Moderator. »Das ist wirklich ein erstaunlicher Vorfall. Ich bin mir sicher, dass Ihr Beitrag den ersten Preis in unserem Wettbewerb um die originellste Neuigkeit der Woche gewinnen wird.«
Pawel schloss die Augen und verschränkte die Arme über der Brust. In dieser abgeschirmten Pose fühlte er sich am wohlsten. Er sah nichts und niemanden und musste nichts in sich aufnehmen.
»Das lasse ich mir gefallen«, sagte Alexander Petrowitsch. »Die Wunder der Dressur. Wahrscheinlich Zirkuspudel. Was meinst du, Pawel?«
»Ja, wahrscheinlich.«
Die Linie 27. Zwei Pudel. Drei Haltestellen. Zwei-sieben-zwei-drei. Das war der Zahlencode, der besagte, dass Pawel so schnell wie möglich nach Moskau zurückkehren sollte. Etwas war passiert, und General Minajew ließ ihn wissen, dass seine Anwesenheit in Moskau nicht nur dringend erwünscht, sondern absolut erforderlich war. Es musste sich um etwas sehr Ernstes handeln. Hatte man vielleicht Ritas Mörder gefunden?
Seit Pawel Minajews Aufträge erfüllt und die Hauptstadt verlassen hatte, sah er sich jeden Abend die Sendung »Zeichen der Zeit« an, sie war seine geheime Verbindung zu Anton Andrejewitsch. Pawel hatte nur auf die Anrufe im Studio zu achten und auf die Zahlen, die der Anrufer nannte. Es waren verschiedene Zahlencodes vereinbart, jeder von ihnen enthielt eine andere Nachricht. »Untertauchen, du wirst gesucht.« – »Dringend melden.« – »Sofort zurückkommen.«
»Sofort zurückkommen.«
ACHTZEHNTES KAPITEL
Es handelte sich um eine klassische Mehrstufenaktion, wie sie von Gordejews Truppe in der Vergangenheit schon des Öfteren ausgearbeitet und durchgeführt worden war.
Gerade vor kurzem war es ihnen gelungen, mit Hilfe so einer Mehrstufenaktion einen Mörder zu fassen, aber diesmal war die Aufgabe viel schwieriger. Damals war der Täter von einem Vorgesetzten nach Moskau beordert worden, weshalb man nicht daran hatte zweifeln müssen, dass er tatsächlich in der Stadt auftauchen würde. Pawel Sauljak hingegen hatte keinen Vorgesetzten, man konnte es nur mit General Minajew versuchen, den man dazu bringen musste, Pawel nach Moskau zu rufen, und dabei gab es keinerlei Garantie, dass er seiner Aufforderung auch wirklich folgen würde. Man konnte nur darauf hoffen.
Die junge Schauspielerin Ira, die in Minajews Nachbarschaft wohnte, hatte der gewiefte, zu abenteuerlichen Aktionen neigende Kolja Selujanow ausfindig gemacht. Er war es auch, der jene Fotomontagen hergestellt hatte, die Minajew vorgelegt worden waren und ihm
Weitere Kostenlose Bücher