Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
Gast hinausbegleitet hatte, kehrte er noch einmal ins Zimmer zurück. Es handelte sich um eine konspirative Wohnung, und es wurde Zeit, nach Hause zu fahren. Aber er fühlte sich völlig kraftlos. Man hatte Tschinzows Leute also im Zusammenhang mit Samara und dem Vorfall im Hotel Rossija verhört. Das konnte nur eines bedeuten: Man hatte Pawel mit dem Mord an Jurzew in Verbindung gebracht. Und vielleicht auch mit den anderen Morden.
Aber sie durften Pawel nicht finden. Sie durften ihn auf keinen Fall finden. Das musste um jeden Preis verhindert werden.
* * *
Nach Ritas Tod und seinem kurzen Aufenthalt in Moskau war Pawel nicht mehr nach Belgorod zurückgekehrt, obwohl es ihm dort gefallen hatte. Jetzt wohnte er an einem ganz anderen Ort, nicht im Hotel, sondern in einem Privathaus, das einem allein stehenden Rentner gehörte. Er war ein sehr angenehmer Wirt, der keine Fragen stellte und sich nicht um Kleinigkeiten kümmerte.
Das Haus des Rentners war komfortabel und sehr gepflegt. Pawel führte hier ein ruhiges und geregeltes Leben. Er wurde von seinem Wirt verköstigt und verließ das Haus nur selten. Morgens stand er zeitig auf, frühstückte und ging wieder in sein Zimmer, mit der Begründung, dass er lange krank gewesen war und viel Ruhe brauchte. Es genügte ein Blick in sein ausgezehrtes graues Gesicht, um ihm das sofort zu glauben. Der Wirt bemühte sich, seinen zurückhaltenden Untermieter mit gutem Essen aufzupäppeln, und ließ ihn ansonsten in Ruhe. Abends sahen sie immer gemeinsam fern, die Nachrichten, irgendeinen Film und um halb zwölf die Sendung »Zeichen der Zeit«. Der Hauswirt hatte diese Sendung bis dahin nicht gekannt, aber nachdem er sie auf Pawels Vorschlag einmal gemeinsam mit ihm angesehen hatte, war er begeistert. Besonders gefiel ihm, dass während der Sendung jeder im Studio anrufen konnte, sogar Zuschauer aus dem Ausland, um etwas Witziges oder Trauriges zu erzählen. Es wurde sogar ein Wettbewerb um die originellste Neuigkeit der Woche veranstaltet. Der alte Alexander Petrowitsch konnte sich nicht genug darüber wundern, welchen Unsinn manche Leute von sich gaben, er amüsierte sich köstlich und brummte auf Altmännerart bissige Kommentare in seinen Bart.
Am heutigen Tag hatten sie bereits die Nachrichten und einen Krimi angesehen, dann hatten sie auf eine Arztserie umgeschaltet. Vor Beginn seiner neuen Lieblingssendung ging Alexander Petrowitsch in die Küche und brühte heißen, aromatischen Kräutertee auf.
»Schade, dass du meinen Tee verschmähst, Pawel«, sagte er zum wiederholten Mal. »Er wirkt Wunder, das weiß ich aus Erfahrung. Du bist so blass und ausgezehrt, man bekommt Angst, wenn man dich anschaut. Ich weiß ja nicht, welche Krankheit du in deinem Moskau durchgemacht hat, aber man sieht, dass es etwas Ernstes war. Wie willst du denn wieder zu Kräften kommen, wenn du nichts Gesundes isst und trinkst? Allein durch Liegen und Schlafen wird man nicht gesund.«
»Übertreiben Sie nicht, Alexander Petrowitsch«, erwiderte Pawel mit einem gezwungenen Lächeln. Der Alte pries ihm seinen Tee jeden Abend an, was Pawel furchtbar auf die Nerven ging. Aber er beherrschte sich und ließ sich nichts anmerken. Der alte Mann war in Ordnung, und vielleicht musste er noch lange bei ihm wohnen.
»Ich esse folgsam alles, was Sie auf den Tisch stellen. Sie haben wirklich keinen Grund, sich zu beschweren. Aber Kräutertee mag ich einfach nicht. Nehmen Sie es mir bitte nicht übel.«
Auf dem Bildschirm erschien der übliche Vorspann, und Alexander Petrowitsch richtete sich genüsslich auf dem Sofa ein. Nach einigen Minuten gingen die ersten Anrufe im Studio ein, der dickliche, langhaarige Moderator drückte auf die Empfangstaste.
»Sprechen Sie bitte.«
»Hallo!« Im Studio ertönte eine entfernte Frauenstimme.
»Sprechen Sie bitte, Sie sind auf Sendung.«
»Hallo, hören Sie mich?«
»Ja, wir hören Sie, sprechen Sie bitte.«
»Ich rufe aus Murmansk an«, sagte die Frau bedeutungsvoll, offenbar in Erwartung stürmischen Beifalls.
Pawel konnte sich nur mit Mühe beherrschen. Dieses unsinnige Geschwätz brachte ihn schier an den Rand des Wahnsinns.
»Wissen Sie«, fuhr die Frau ebenso bedeutungsvoll fort, »bei uns in Murmansk sind die Bananen über Nacht fast doppelt so teuer geworden, und auch die Orangen kosten plötzlich um die Hälfte mehr. Ich weiß nicht, was unsere Regierung sich denkt. Wie soll das weitergehen? Man bezahlt uns bereits seit drei Monaten keine Gehälter,
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