Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
schon nicht Hungers sterben.«
Es kam zu keinem Streit, nein, Nastja und Alexej stritten sich praktisch nie, aber das Gespräch hinterließ einen unangenehmen Nachgeschmack, und Nastja war nicht in bester Stimmung, als sie zur Arbeit kam. Im Büro war es kalt, aber sie hätte nicht sagen können, was sie mehr erbitterte, das ständige Frösteln, das nicht nachließ, oder das morgendliche Gespräch mit ihrem Mann. Unangenehm war vor allem, dass Ljoscha in gewisser Weise Recht hatte, es hätte ihr tatsächlich nicht viel ausgemacht, drei Monate ohne ihn zu sein. Sie hatte sich so daran gewöhnt, allein zu leben und niemanden zu brauchen, dass die acht Monate Ehe es noch nicht vermocht hatten, ihr Angst vor einer vorübergehenden Trennung von ihrem Mann einzuflößen.
Für zehn Uhr stand die morgendliche Einsatzbesprechung im Büro des Dezernatsleiters bevor, aber zehn vor zehn sah Kolja Selujanow bei ihr herein und teilte mit, dass die Einsatzbesprechung heute ausfiel.
»Warum denn das?«, fragte Nastja verwundert. »Ist etwas passiert?«
»Keine Ahnung.« Selujanow zuckte mit den Schultern. »Knüppelchen ist heute nicht im Büro erschienen, vor fünf Minuten hat er angerufen und gesagt, dass er nicht vor zwölf Uhr auftauchen wird.«
»Zum Glück ist er nicht krank«, sagte Nastja und lächelte erleichtert. »Alle anderen Unannehmlichkeiten werden wir irgendwie überleben.«
Die Arbeit türmte sich auf Nastjas Schreibtisch, wie immer. Nastja telefonierte, stellte Fragen, holte Auskünfte ein, klärte dies und jenes, zeichnete Skizzen, machte sich Notizen, verzog das Gesicht, murmelte etwas, trank Kaffee, rauchte eine Zigarette nach der anderen, aber gegen Abend war es etwas lichter geworden in ihrem Kopf. Im Laufe des Tages hatte sie ihre Auswertungsarbeit zweimal unterbrechen müssen, um Gespräche mit Zeugen zu führen. Diese Zeugenvernehmungen übertrug ihr der Dezernatsleiter Oberst Gordejew mit dem Spitznamen Knüppelchen. Als sie nach sieben Uhr abends erneut seine Stimme in der internen Leitung vernahm, war sie deshalb sicher, dass jetzt, kurz vor Torschluss, noch ein Zeuge in der Dienststelle aufgetaucht war und dass sie die einzige Dumme war, der man seine Vernehmung noch anhängen konnte.
»Komm mal bei mir vorbei«, sagte Gordejew kurz, und Nastja bemerkte, dass die Stimme ihres Chefs nicht gerade wohlwollend klang. Hatte sie etwas verbrochen? Doch wider Erwarten wirkte ihr Chef weder verärgert noch missmutig, als Nastja sein Büro betrat.
»Setz dich«, sagte er. »Und wundere dich jetzt über gar nichts. Sag mir bitte, liest du wenigstens manchmal Zeitung?«
»Manchmal schon«, erwiderte Nastja mit einem Lächeln. »Aber dieses Manchmal kommt sehr selten vor.«
»Siehst du fern?«
»Ja, aber auch nicht oft.«
»Heißt das, dass die Politik dich überhaupt nicht interessiert?«
»Nicht im Geringsten«, versicherte Nastja ihrem Chef mit Nachdruck.
»Das ist schlecht. Dann müssen wir eine Analphabetenschulung mit dir durchführen.«
»Muss das wirklich sein, Viktor Alexejewitsch?«, fragte Nastja verzagt. »Mir geht die Politik gegen den Strich.«
»Es muss sein, Kindchen, sonst wirst du nichts verstehen.«
»Ist es denn so kompliziert?«, grinste sie ungläubig.
»Für mich nicht, aber ich lese Zeitung, im Gegensatz zu dir. Also, hör zu, Nastjenka. Es war einmal ein General namens Bulatnikow. Er begann seine Karriere beim KGB und beendete sie ebenda, nur dass die Einrichtung zu dieser Zeit bereits einen anderen Namen hatte. Dieser General hatte eine Vertrauensperson, einen Informanten, der Pawel Dmitrijewitsch Sauljak hieß. 1993, kurz nach dem Oktoberputsch, kam Bulatnikow unter noch ungeklärten Umständen ums Leben, und sehr bald darauf stand Pawel Sauljak vor Gericht und landete ohne Umweg im Straflager.«
»Ein Unglücksfall?«, fragte Nastja.
»Das weiß niemand. Aber vielleicht weiß es Pawel Dmitrijewitsch Sauljak. In einer Woche, am dritten Februar, wird er aus der Haft entlassen. Aber auf Sauljak kommen wir später zurück. Erst zu Bulatnikow. Es ist wichtig für uns, zwei Dinge über ihn zu wissen. Erstens hatte er den Ruf eines Menschen, der sehr viel konnte, sehr viel tat und noch mehr wusste. Zweitens hatte er einen Schüler, einen Mitarbeiter, den er lange Jahre gefördert, angeleitet und protegiert hat, bis er sein eigener Stellvertreter wurde. Der Name dieses Mannes ist Anton Andrejewitsch Minajew. Bulatnikows Nachfolger gefiel dieser Stellvertreter nicht, und
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