Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
begann, die durch den heimtückischen Spalt zwischen Tür und Boden hereingekrochen kam. Sie trocknete sich hastig ab, hüllte sich in einen warmen Bademantel und stürzte in Richtung Küche, wo sie die rettende Wärme erwartete.
»Manche Leute haben einfach Glück«, murmelte sie halb scherzhaft, halb neidisch, während sie die Zähne in der gerösteten Weißbrotscheibe mit dem geschmolzenen Käse darauf vergrub. »Sie müssen nicht in aller Herrgottsfrühe zur Arbeit hetzen, sie stehen jeden Tag so auf, als wäre Feiertag, ohne Leiden und Tränen.«
»Genau«, bestätigte ihr Mann, »es gibt auch Leute, die Glück haben mit ihrem Ehemann. Er ist geduldig, er liebt seine Frau, steht jeden Morgen auf, um ihr das Frühstück zu machen, er erledigt die Einkäufe und erträgt klaglos den schwierigen Charakter seiner Frau. Warum hast du einen solchen Ehemann, und warum habe ich keine solche Ehefrau?«
»Weil du nicht auswählen kannst«, erwiderte Nastja schulterzuckend. »In all den Jahren, in denen du immer nur hinter mir her warst, hättest du leicht etwas Besseres finden können. Wer ist denn schuld daran, dass du dich so auf mich fixiert hast, dass du partout nur mich haben wolltest. Warum bist du eigentlich so früh aufgestanden? Wolltest du heute nicht zu Hause arbeiten?«
»Das will ich auch jetzt noch. Ich bin aufgestanden, weil du mir Leid tust, du Schlafmütze. Ich wollte dir das Frühstück machen.«
»Danke, Liebling, ich weiß es zu schätzen«, sagte Nastja mit einem dankbaren Lächeln. »Für wann hat man euch denn die Auszahlung des Gehalts versprochen?«
»Man verspricht uns gar nichts«, brummte Alexej, »man bezahlt einfach nicht und schweigt. Seit November werden wir nicht mit Geld, sondern mit Schweigen bezahlt. Warum fragst du? Wird es langsam eng?«
»Ich weiß noch nicht, aber es kann durchaus sein. Wir bekommen auch seit Januar kein Gehalt mehr, aber zumindest verspricht man es uns von Tag zu Tag. Wir besitzen noch dreißigtausend Rubel, für eine Woche reicht es noch, und was machen wir dann?«
»Mach dir darum keinen Kopf, Nastja«, sagte Alexej. »In dieser Woche habe ich vier bezahlte Vorlesungen und nächste Woche drei. Damit kommen wir schon hin.«
»Aber wir haben inzwischen das gesamte Honorar für dein letztes Lehrbuch verjubelt, weil man dir seit November kein Gehalt bezahlt, Ljoscha, wir haben das Buch einfach von der ersten bis zur letzten Seite aufgegessen, einschließlich Vorwort, Nachwort und Umschlag. Irgendwie leben wir falsch, wir haben keine Strategie, wir wissen nicht, wie man Geld verdient und wie man es ausgibt. Das Honorar für dein Lehrbuch wollten wir doch eigentlich zurücklegen, um zum ersten Jahrestag unserer Hochzeit eine Reise zu machen. Morgen werden wir das Honorar für deine Vorlesungen verbraucht haben, und was machen wir übermorgen, wenn man uns weiterhin kein Gehalt bezahlt? Wollen wir anfangen, die Geschenke zu verkaufen, die du mir in den letzten Jahren gemacht hast?«
»Dieses Gespräch hat keinen Sinn, Nastja, zumal du in Eile bist und offenbar auch keine konkreten Vorschläge hast. Sieh zu, dass du fertig wirst mit deinem Frühstück, sonst kommst du zu spät zur Arbeit.«
»Ich habe durchaus einen Vorschlag, und ich möchte, dass du darüber nachdenkst. Du hast gesagt, dass man dir während der letzten Konferenz ein interessantes Angebot gemacht hat. . .«
»Nastja!«
Alexej erhob sich abrupt und ging zum Fenster.
»Du würdest ja sowieso nicht mitkommen. Ich weiß, dass es dir völlig gleichgültig ist, wo ich bin, ob neben dir oder irgendwo in Kanada, am anderen Ende der Welt. Du siehst nichts außer deiner Arbeit, dich interessiert nichts anderes. Aber ich will nicht getrennt sein von dir, ich leide ohne dich, ich bekomme sofort Sehnsucht nach dir.«
»Warum bist du jetzt böse, Ljoschenka? Was sollen wir denn tun? Sollen wir verhungern? Weder du noch ich sind daran schuld, dass man Angestellten in festem Arbeitsverhältnis keine Gehälter auszahlt, wir können daran nichts ändern. Das steht nicht in unserer Macht. Also muss wenigstens einer von uns beiden Geld verdienen, einen anderen Ausweg gibt es nicht. Wenn du für drei Monate nach Kanada gehen und dort die Vorlesungsreihe halten würdest, die man dir angeboten hat, müssten wir uns mindestens ein Jahr lang nicht mehr fragen, ob wir unsere Gehälter bekommen oder nicht.«
»Ich gehe nicht nach Kanada«, sagte Alexej starrsinnig. »Ich kann auch hier etwas verdienen, wir werden
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