Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
vor. Er hielt sich stets an die Disziplin, aber Anzeichen dafür, dass er seine Schuld eingesehen, bereut und versucht hat, sie durch Arbeit abzubüßen, konnten an ihm nicht beobachtet werden. Er war verschlossen und ungesellig und nahm keinen Kontakt mit seinen Mithäftlingen auf. Sauljak wurde am 4. Februar 1994 verhaftet, dementsprechend endet sein Freiheitsentzug am 3. Februar 1996.«
Nachdem der General diesen wenig aufschlussreichen Text gelesen hatte, zuckte er mit den Schultern. Er wusste, dass es so etwas einfach nicht gab. Ein Lagerhäftling konnte nicht einfach nur still und friedlich seiner täglichen Arbeit nachgehen, ohne dass sich Kontakte ergaben und Konflikte auftraten. Entweder deckte ihn die Lagerverwaltung, oder er gehörte zu einer Gruppe, die sich um einen Leader bildete, zu einer so genannten Familie. Andernfalls waren Kontakte und Konflikte in einer Strafkolonie unvermeidlich. Um in Ruhe gelassen zu werden, hätte Sauljak in dieser Zeit mindestens zwei-, dreimal jemanden ordentlich verprügeln müssen, was ihm fünfzehn oder gar dreißig Tage Isolationshaft eingebracht hätte. Aber in dem Bericht der Lagerverwaltung wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Sauljak keinerlei Verstöße gegen die Lagerordnung begangen hatte, dass er niemals in Konflikte geraten war, und das brachte Alexander Semjonowitsch auf den trüben Gedanken, dass entweder der Beamte, der dieses Schreiben verfasst hatte, nichts von seiner Arbeit verstand, oder dass an der Sache etwas faul war. Wahrscheinlich hatte Anton Minajew recht. Man musste diesen Sauljak im Auge behalten.
Es dauerte noch einen weiteren Tag, bis Alexander Semjonowitsch entschieden hatte, mit wessen Hilfe er versuchen wollte, den geheimnisvollen Informanten, der wegen schweren Rowdytums ins Straflager gekommen war, vor seinen potenziellen Verfolgern zu schützen. Bis zum 3. Februar blieben noch sieben Tage. Das war nicht sehr viel in Anbetracht dessen, dass erst ein Plan erarbeitet werden musste . . . General Konowalow rief einen Mann an, dem er bedingungslos vertraute. Dieser Mann war Viktor Gordejew, der Leiter der Abteilung für schwere Gewaltverbrechen bei der Moskauer Kripo.
* * *
Nastja Kamenskaja hatte schon lange nicht mehr so verzweifelt gefroren wie in diesem Winter. In den vergangenen Jahren war das Thermometer selten unter null Grad gefallen, auf den Straßen war es ständig nass und matschig gewesen, und rund um die Uhr konnte man die Oberlichter der Fenster geöffnet halten. In diesem Jahr jedoch hatte die Natur sich besonnen und beschlossen, wieder einmal zu zeigen, was ein richtiger Winter war, damit die Menschen es nicht vergaßen.
Morgens war es so kalt im Zimmer, dass Nastja nicht aus dem warmen Bett kam. Das morgendliche Aufstehen war immer ein qualvoller Vorgang für sie, besonders aber dann, wenn es dunkel und kalt war. Nachdem sie endlich dennoch die Decke zurückgeschlagen hatte und aus dem Bett gesprungen war, lief sie sofort in die Küche und zündete alle vier Flammen auf dem Gasherd an. Danach stürzte sie ins Bad und stellte sich für eine Viertelstunde unter die heiße Dusche, in der Hoffnung, dass ihr Körper endlich aufwachen und es inzwischen warm werden würde in der Küche. Jeden Tag, während sie unter dem heißen Wasserstrahl stand, dachte sie dasselbe: Womit habe ich das verdient? Warum muss ich so leiden? Ich möchte wieder ins Bett, mir fallen die Augen zu, meine Beine knicken ein, ich begreife nichts, mir ist schwindelig. Ich kann nicht um halb sieben aufstehen, ich kann nicht, ich kann nicht! Aber kurz darauf verließ sie dann doch jeden Tag das Badezimmer, goss sich in der Küche eine Tasse starken Kaffee und ein Glas eisgekühlten Saft ein, und bereits nach einer Viertelstunde erschien ihr das Leben wieder durchaus akzeptabel, und die vorangegangenen Wehklagen kamen ihr dumm und sinnlos vor.
Während sie heute unter der Dusche stand und sich ihrem obligatorischen Selbstmitleid hingab, vernahm sie hinter der Tür die Stimme ihres Mannes.
»Soll ich zum Frühstück Brot für dich rösten?«
»Nein, nicht nötig«, erwiderte sie mit leidender Stimme.
»Was willst du denn haben? Eier?«
»Ich will gar nichts. Ich will sterben.«
»Alles klar.« Alexej schmunzelte hinter der Tür. »Also geröstetes Brot. Hör auf mit deiner Anstellerei, in der Küche herrscht bereits tropische Hitze.«
Sie stellte das Wasser ab und fühlte sofort, wie das dampfende Badezimmer sich mit der kalten Luft zu füllen
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