Anastasija 06 - Widrige Umstände
ermittelnden Kriminalisten im Haus war, rief er Nastja Kamenskaja zu sich. Sie berichtete ausführlich, was bereits getan worden war.
»Das Motiv Gewinnsucht haben wir erst mal abgeschlossen, bei ›Eifersucht‹ ist noch ein kleiner Rest übrig, den erledigt Dozenko gerade.«
»Und dann?«
»Dann nehmen wir den nächsten Schwierigkeitsgrad in Angriff.«
»Irgendwelche Ideen?«
»Na ja«, Nastja zögerte. »Etwas schon. Der letzte Liebhaber der Filatowa ist bei Interpol. Drogen, Waffen, Schmuggel – die schweren Sachen eben, Sie wissen schon. Vielleicht wurde die Filatowa benutzt, um Druck auf Idzikowski auszuüben. Alle sagen aus, sie sei in den letzten zwei, drei Monaten irgendwie bedrückt gewesen, besorgt. Ihr Chef führt das auf ihre Probleme mit der Obrigkeit im Ministerium zurück. Aber wir sollten nicht vergessen, dass die Filatowa äußerst verschlossen war. Möglicherweise hatte ihr Stimmungswandel ja damit zu tun, dass sie oder Idzikowski bedroht wurde oder vielleicht erpresst.«
»Da ist was dran.« Gordejew nickte anerkennend. »Noch etwas?«
»Ein weiterer Ansatz wäre Rache, sozusagen auf dem Feld der Wissenschaft. Aber«, Nastja machte eine viel sagende Geste, »das liegt schon über hundert, fast bei zweihundert.«
Gordejew hatte Nastja einmal gefragt, wie sie es schaffte, mitunter völlig unwahrscheinliche Hypothesen aufzustellen. Darauf hatte sie geantwortet, unwahrscheinlich seien solche Hypothesen nur für jemanden, der denke wie ein Physiker. Ein Physiker überprüft die ersten neunundneunzig Zahlen, stellt fest, dass sie alle kleiner sind als hundert, und folgert daraus, dass generell alle Zahlen kleiner sind als hundert. Denn neunundneunzig Experimente sind für einen naturwissenschaftlichen Schluss völlig ausreichend. Sie, Nastja, denke dagegen wie ein von der Mathematik verdorbener Geisteswissenschaftler, und für einen Mathematiker sind alle Zahlen gleichberechtigt und gleich häufig verbreitet, unendlich große wie unendlich kleine.
»Dozenko ist mit dem Model fertig, er wird sich also zusammen mit Larzew um Idzikowski kümmern. Korotkow hat noch mit Pleschkow zu tun, deine ›zweihundert‹ wirst du also selbst bearbeiten«, schloss Gordejew. »Ich rufe im Institut an, dass sie dir alle Papiere der Filatowa bringen sollen.«
»Aber wirklich alle, Viktor Alexejewitsch, aus dem Safe, aus ihrem Schreibtisch, von zu Hause. Alles bis zum letzten Zettel. Auch ihren Schreibtischkalender. Und ihre Notiz-und Adressbücher.«
»Und des Teufels drei goldene Haare«, ergänzte Gordejew und lachte. »Na schön, das war’s.«
Während der Oberst sich auf das Gespräch mit dem Berater des Vizepremiers, Kowaljow, vorbereitete und Nastja auf die Papiere der Filatowa wartete und derweil ihren analytischen Monatsbericht beendete, war der große, gut aussehende Mischa Dozenko auf dem Weg aus dem Innenministerium in die vertraute Petrowka. Er hatte soeben mit Alexander Pawlow gesprochen, dem abgewiesenen Verehrer der Filatowa, und war mit dem Gespräch äußerst unzufrieden.
Erstens war er sauer auf sich, weil er nicht gewagt hatte, das Aufnahmegerät herauszuholen. Oberst Pawlow war einfach zu hochmütig und aufgeblasen gewesen. Natürlich, wenn sie winzig kleine Geräte mit ausreichend empfindlichen Mikros hätten, die man nicht extra aus der Tasche nehmen musste, wäre das etwas ganz anderes. Aber mit ihrer vorsintflutlichen Technik, das war kein Arbeiten, das war die reinste Schande.
Zum Zweiten war er sauer auf Irina Filatowa, die, wie er aus dem Gespräch mit Pawlow erfahren hatte, auch mit diesem intim gewesen war. Dozenko war noch sehr jung und hatte ein romantisches Verhältnis zu den Frauen und zur Liebe. Ihm gefiel der freundliche, kultivierte Kyrill Idzikowski von Interpol, und er nahm es der Toten aufrichtig übel, dass sie diesen patenten Kerl mit dem arroganten, geschniegelten Pawlow betrogen hatte.
Und drittens war der taktvolle Dozenko sauer auf Pawlow selbst, der nicht nur ohne die geringste Verlegenheit umgehend angab, mit der Filatowa »ein intimes Verhältnis« gehabt zu haben, sondern sich sogar noch damit zu brüsten schien, dass er die widerspenstige Schöne bezwungen hatte. Besonders ärgerte Dozenko, dass Pawlow einen juristischen Doktortitel besaß. Er erinnerte sich noch gut daran, was Irina laut Sacharow über Ministeriumsbeamte mit akademischen Titeln geäußert hatte.
Es war so heiß, dass es selbst in der Metro, wo meist eine angenehme Kühle herrschte,
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