Anastasija 06 - Widrige Umstände
gelassenen Valera mit den beiden Verkehrsdelikten, hatten ein hieb- und stichfestes Alibi und keinerlei Motiv für den Mord. Die Semjonowa hatte nicht übertrieben, als sie sagte, Irina habe es verstanden, ihr Privatleben so zu organisieren, dass niemand Grund zur Eifersucht hatte.
Gewinnsucht als Motiv war auch nirgends zu finden. Irina und ihr Vater lebten von ihrer beider Gehalt, waren an keinem privaten Unternehmen beteiligt und keine reichen Erben. An Schmuck gab es in der Wohnung zwei Goldketten, eine gehörte Irina, die andere, mit Anhänger, ihrer Mutter, und drei Eheringe – von Irina und von ihren Eltern. Wie ihr Vater sagte, bevorzugte Irina Silber, aber auch davon besaß sie nur wenig, wenn auch von sehr erlesenem Geschmack. Viel Geld hatte die Filatowa für Bücher ausgegeben, außerdem mochte sie teure Kosmetik, besonders Parfüm. Ihre Kleidung dagegen war nicht teuer und, wie Mischa Dozenko es ausdrückte, alltäglich. Nein, nichts deutete darauf hin, dass die Familie neben ihrem Gehalt noch andere Einnahmen gehabt hätte. Kein Auto, kein Wochenendgrundstück. Blieb noch die bislang ungeklärte Frage nach dem Geld für die Wohnungsbaugenossenschaft, das Irina angeblich hatte bekommen sollen. Der Vater wusste von diesem Geld nichts, ebenso wenig davon, dass Irina in eine Genossenschaft eintreten wollte. »Irina war sehr verschlossen. Von freudigen Ereignissen erzählte sie nie vorher, immer post festum. Und über Unannehmlichkeiten redete sie erst recht nicht.« Die Frage blieb also offen und wurde von Larzew und Dozenko als überholt angesehen, da die Geschichte 1987 passiert war, also bereits fünf Jahre zurücklag.
Der Fall schien in einer Sackgasse zu stecken.
»Liebe und Geld, diese beiden Motoren des Fortschritts, haben wir abgehakt«, erklärte Larzew tiefsinnig. »Nun können wir uns aufregenderen Fragen zuwenden.«
Mit diesen Worten legte er Korotkow Nastjas Zettel hin.
»Kümmern wir uns darum? Nastja will ein Porträt von diesem Pawlow aus dem Innenministerium. Weißt du zufällig, wozu?«
»Spielt das eine Rolle? Wenn sie ein Porträt will, kriegt sie von uns eins.«
Korotkow entriss Larzew den Zettel, bemüht, seine Freude zu verbergen. Hurra! Ein Anlass, Ljudmila anzurufen! Komm zu dir, du Trottel, rief er sich in Gedanken zur Ordnung, sie hat dich längst vergessen. Was soll sie denn mit dir? Aber dann tauchte störrisch die Erinnerung an ihre leise Stimme in seinem Gedächtnis auf: »Das ist kein Scherz. Heiraten Sie mich.«
Wenn es stimmte, dass Geld Geld anzog und Unglück Unglück, dann galt dasselbe auch für die Liebe. Denn der in die Zeugin Semjonowa verliebte Detektiv Jura Korotkow erfuhr aus dem Gespräch mit ihr etwas, das ihn veranlasste, die schon ad acta gelegte Hypothese Mord aus unerwiderter Liebe noch einmal zu beleuchten.
Der Mitarbeiter des Stabs des Innenministeriums Milizoberst Alexander Jewgenjewitsch Pawlow, war, so behauptete die Semjonowa, hinter Irina her, und zwar hartnäckig und auf äußerst eigenwillige Weise. Anfangs fast tägliche Besuche im Institut mit Blumen und Geschenken, öffentliche Handküsse, Bewirtung aller Kollegen der Abteilung mit einer ofenfrischen Torte und Ausrufe: »Irina, ich bin Ihr Sklave! Irina, Sie sind vollkommen!« Irina amüsierte sich offen darüber, sie lächelte freundlich und machte sich über ihren Verehrer lustig, aber das kränkte ihn kein bisschen.
Dann änderte sich die Situation schlagartig. Schluss mit den Blumen, dem Teetrinken und den Komplimenten. Pawlow kam nicht mehr ins Institut und wurde zum bösen Jungen, der das Mädchen, das ihm gefällt, am Zopf zieht und kneift. Er terrorisierte Irina buchstäblich, hatte an den von ihr eingereichten Dokumenten ständig etwas auszusetzen, bestellte sie dauernd ins Ministerium. Aber sie ertrug das alles standhaft, Geduld und Nerven hatte sie mehr als genug. Der Stab war der Hauptauftraggeber für ihre Abteilung, ein Konflikt mit dessen leitenden Mitarbeitern kam deshalb nicht infrage. Der verliebte Pawlow war in aller Munde, und Irina wurde als Märtyrerin bezeichnet und einhellig bemitleidet.
»Ich weiß noch, ich habe damals sogar mal zu ihr gesagt: Nun schlaf doch wenigstens ein Mal mit ihm. Vielleicht lässt er dich dann in Ruhe.«
»Und sie?«, fragte Jura.
»Sie hat mich so wütend angesehen, dass ich ganz baff war. Eher schlafe ich mit einem Bettler im Fußgängertunnel als mit ihm, hat sie gesagt. Dabei«, ergänzte Ljudmila, »war Pawlow ziemlich
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