Anastasija 06 - Widrige Umstände
sollte.«
»Ich bin mir sicher, dass sie sich nicht bestätigt«, warf Kowaljow hastig ein.
»Aber ich bin davon ausgegangen«, spann Gordejew seinen Faden unbeirrt weiter, »dass Sie als Vater des Opfers das Recht haben zu erfahren, in welcher Richtung die Ermittlungen geführt werden. Mit anderen Worten, ich sehe keinen Grund, Ihnen Informationen vorzuenthalten. Glauben Sie mir, ich habe aufrichtiges Mitgefühl mit Ihnen, es ist schlimm, erfahren zu müssen, dass der Verwandte eines engen Freundes der Tatverdächtige ist. Aber ich betone noch einmal: Es ist bislang nur eine grobe Hypothese, vorerst haben wir mehr Verdachtsmomente als reale Indizien. Sollte Ihre Tochter ihn identifizieren, dann sieht die Sache anders aus. Darum habe ich eine Bitte an Sie, Vitali Jewgenjewitsch: Reden Sie vorerst nicht mit Winogradow darüber. Er hat genug Einfluss, um die Ermittlungen zu behindern. Er wird seinen Neffen mit allen Mitteln schützen wollen und könnte etwas unternehmen, das uns daran hindern würde, den Täter zu fassen, etwas, das uns die Hände binden würde. Und sollte Schumilin wirklich unschuldig sein, dann könnte Winogradows unüberlegtes Handeln womöglich verhindern, dass wir den wirklichen Täter fassen. Das geschieht häufig. Ich verlasse mich auf Ihre Vernunft, Vitali Jewgenjewitsch.«
Gordejew war fertig mit seinem vorbereiteten Monolog. Er freute sich, dass er den geschliffenen Text ohne einen einzigen Hänger zu Ende gebracht hatte.
»Trotzdem bin ich überzeugt, dass Sergej nichts damit zu tun hat«, wiederholte Kowaljow noch einmal, schon an der Tür.
Gordejew, der sich höflich erhoben hatte, um seinen Besucher zu verabschieden, nickte zustimmend.
»Geb’s Gott, Vitali Jewgenjewitsch, geb’s Gott.«
Wieder zurück an seinem Schreibtisch, warf er einen zufriedenen Blick auf das Formular, das Olschanski ihm für die Vernehmung von Kowaljow ausgestellt hatte. Sehr schön, dachte er. Vernehmen werde ich Sie, Genosse Kowaljow, wenn Sie anfangen, mich zu behindern. Falls Sie das tun sollten.
Der Oberst verriegelte sein Büro von innen, nahm erleichtert die Krawatte ab, knöpfte sein Hemd auf, schaltete den Ventilator ein und setzte seinen erhitzten, feuchten Körper dem kräftigen Luftstrom aus.
Bevor er nach Hause ging, überprüfte Gordejew wie immer, wer von seiner Mannschaft womit beschäftigt war. Im Büro saß nach wie vor nur die Kamenskaja, alle anderen waren unterwegs. Er erfuhr unter anderem, dass Jura Korotkow den Mordfall Pleschkow erfolgreich abgeschlossen hatte und dass Mischa Dozenko und Wolodja Larzew Interpol unter die Lupe nahmen, um herauszufinden, ob der Tod von Irina Filatowa vielleicht etwas mit der internationalen Mafia zu tun hatte.
»Zeit, nach Hause zu gehen, Anastasija, was sitzt du immer noch hier? Es ist schon nach acht. Los, komm, heb deinen Hintern vom Stuhl, wir laufen ein Stück.«
Nastja schob zwei dicke Mappen der Filatowa in ihre Tasche, um sie sich zu Hause anzusehen.
Oberst Gordejew und Majorin Kamenskaja schlenderten über den Boulevardring und erörterten friedlich, dass die halbe Wahrheit noch immer die beste Lüge war. Doch hoch über ihnen am hitzegebleichten Himmel zog eine kleine Wolke dahin, dieselbe, die schon seit einigen Tagen über Viktor Alexejewitsch schwebte. Aber sie war nicht mehr so leicht und hell wie zuvor. Doch weder Gordejew noch Nastja bemerkten sie.
Am Samstag ging Nastja, nachdem sie in ihrem Büro eine weitere Portion der Materialien aus dem Institut der Filatowa gelesen hatte, nicht wie üblich in Richtung Metro, sondern setzte sich an einen Tisch vor einem kleinen Imbissstand direkt an der Kreuzung von Petrowka und Boulevard. Seit einem unglücklichen Sturz bei Glatteis hatte Nastja häufig Rückenschmerzen, besonders wenn sie Schweres trug. Um am Sonntag nicht ins Büro fahren zu müssen und so wertvolle Zeit zu verlieren, hatte sie ihre Tasche mit Papieren der Filatowa voll gestopft und mit Ljoscha verabredet, dass er sie abholen würde. Im Gegensatz zu seiner Freundin war Ljoscha kein Meister darin, seine Routen und die dafür benötigte Zeit klug zu planen, darum holte sich Nastja eine Tasse Kaffee und ein Glas Saft, schlug ein dickleibiges, gebundenes Manuskript auf und richtete sich auf langes Warten ein.
Es war die Doktorarbeit der Filatowa, und Nastja registrierte anerkennend den guten, ja geradezu eleganten Stil. Irina schilderte den Weg der Informationen vom Augenblick der Tat bis zur Aufnahme des Verbrechens in die
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